Anonym, Privataufnahme, Silbergelatineabzug, um 1904, gelaufen von Wien über Puchberg am Schneeberg bis nach Meran, Poststempel 31.10.1904, Privatsammlung

Anonym, Privataufnahme, Silbergelatineabzug, um 1904, gelaufen von Wien über Puchberg am Schneeberg bis nach Meran, Poststempel 31.10.1904, Privatsammlung

Eine Frage von Leben oder Tod

„Sein oder nicht Sein, das ist die Frage“, seufzte der junge Mediziner Wilhelm Neumann 1904 tiefsinnig … Während Hamlet mit dem berühmten Satz über sein eigenes Ableben sinniert hatte, bezog sich jener wohl eher auf ein drängendes Problem seiner Zeit: die Tuberkulose. Die beiden jungen Männer, die für die fotografisch illustrierte Postkarte vor aufgeschlagenen Büchern und Mikroskop Modell saßen, sind aller Wahrscheinlichkeit nach Neumann selbst und sein Kollege Hermann Wittgenstein, Cousin des berühmten Philosophen Ludwig (der zu diesem Zeitpunkt noch die Schulbank drückte). Der Gegenstand ihrer intensiven Forschungen war die Tuberkulose, deren Erreger erst 1882 entdeckt worden war. Das winzige Mycobacterium tuberculosis hatte auf der ganzen Welt massiven Schaden angerichtet, und in Wien um 1900 war jeder vierte Todesfall darauf zurückzuführen. In den Arbeiterbezirken wie Favoriten oder Ottakring waren die Verlustzahlen in den so genannten „Staubberufen“ (TextilarbeiterInnen oder Tischler zum Beispiel) besonders hoch. Die Entdeckung des Bakteriums führte noch nicht zur Lösung des Problems, denn ein Heilmittel oder gar ein Impfstoff waren damit nicht gefunden. Der Schaden konnte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs lediglich eingedämmt werden, und je mehr man über den Erreger wusste, desto effektiver konnte man handeln. Man widmete sich also allerorts fieberhaft den Forschungen, so auch Neumann und Wittgenstein. Sie veröffentlichten 1909 ihre Ergebnisse: „Das Verhalten der Tuberkelbazillen in den verschiedenen Organen nach intravenöser Injektion“.

Die Postkarte mit dem zeittypischen Amateur-Schnappschuss, ist ein Zeugnis ihrer Kollaboration. Dass sich Neumann und Wittgenstein ganz unbefangen bei ihrer gemeinsamen Arbeit in häuslichem Ambiente ablichten ließen, lässt den Rückschluss zu, sie hätten sich Großes von den Ergebnissen ihrer Forschung erhofft und sozusagen den bescheidenen Anfang dokumentiert. Adressatin war im Oktober 1904 Gretel Frey in Puchberg am Schneeberg (die Karte wurde ihr nach Meran weitergesendet). Sie war die „jugendliche, liebreizende Tochter“[1] des dortigen Bürgermeisters. Zumindest Wittgenstein dürfte bei ihr gewesen sein, wie man dem Text der Karte folgend mutmaßen kann – seine Familie besaß auch Land im angrenzenden Miesenbach. Die Schneebergbahn war wenige Jahre zuvor fertiggestellt worden und dies öffnete nun dem Bergtourismus die Türen. Der Kaiser selbst war 1902 zu einem PR-Feldzug dorthin aufgebrochen, wo er von Gretel Frey (ebenfalls) begrüßt worden war. Die Erschließung der Berge brachte wachsende Besucherzahlen und auch die Bedeutung der hohegelegenen Regionen als Kurorte für Tuberkulosekranke spielte eine Rolle. Die damals gängigen Mittel zur Bekämpfung der Krankheit bestanden im Großen und Ganzen aus der Stärkung des Immunsystems: Ruhe, gute Ernährung und vor allem Sonne und Frischluft. Man versprach sich viel von so genannten Heliotherapien. Wer es sich also leisten konnte fuhr in einen exklusiven Kurort hoch oben und konnte im besten Fall den Verlauf der Krankheit verlangsamen. Arthur Schnitzler führ zu diesem Zweck nach Meran, den gleichen Ort wo Christian Morgenstern 1914 an Tuberkulose sterben sollte. War dies der Grund warum Gretel Frey dorthin gereist war? Waren Neumann und Wittgenstein zu ihrer ärztlichen Konsultation an den Schneeberg gerufen worden und empfahlen eine Reise zum Luxuskurort Meran? Ihre Mutter jedenfalls war 1917 an den ambitiösen Plänen eines Tuberkulosezentrums in Puchberg beteiligt, das aber nie vollendet wurde.

Magdalena Vukovic

 

[1] Österreichische Kronen-Zeitung, 20. Juni 1902, S. 11.

Herzlichen Dank an Prof. Dr. Karl Rieder für die Informationen über Familie Frey und zu Puchberg am Schneeberg.



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