ND. Phot. (Neurdein Frères): „Sur le siège; Mme Dufaut“ (Nr. 2264; Serie „Les femmes cocher“), 1907, Lichtdruck, 1907 nach Ouistreham gelaufen; dies.: „Mme Dufaut sur les Boulevards; plus de badauds que de clients“ (Nr. 2260)

ND. Phot. (Neurdein Frères): „Sur le siège; Mme Dufaut“ (Nr. 2264; Serie „Les femmes cocher“), 1907, Lichtdruck, 1907 nach Ouistreham gelaufen; dies.: „Mme Dufaut sur les Boulevards; plus de badauds que de clients“ (Nr. 2260)

ND. Phot. (Neurdein Frères): „Sur le siège; Mme Dufaut“ (Nr. 2264; Serie „Les femmes cocher“), 1907, Lichtdruck, 1907 nach Ouistreham gelaufen; dies.: „Mme Dufaut sur les Boulevards; plus de badauds que de clients“ (Nr. 2260)

Ambivalente Sichtbarkeit

Am 21. Februar 1907 treten in Paris erstmals zwei Frauen als Pionierinnen unter 20.000 Männern ihren Beruf als Kutscherin an, nachdem sie am Vortag die offizielle Konzession dazu erhalten haben. Eine von ihnen, die sich bereits 1906 in Ausbildung begibt und die Prüfung auf Anhieb besteht, ist Clémentine Dufaut. Sie ist mit einem Kutscher verheiratet und hat das Ziel, sich in Zukunft gemeinsam mit ihrem Mann selbständig zu machen. Ihre erste Ausfahrt gestaltet sich, wie aus der Auswertung von insgesamt siebzig zeitgenössischen Presseberichten durch die Soziologin Juliette Rennes hervorgeht, als regelrechtes Medienspektakel. Journalisten, Fotografen und neugierige Privatpersonen drängen sich vor der Remise und stellen die beiden frischgebackenen Kutschenlenkerinnen vor ungeahnte Herausforderungen.

Die mediale Präsenz ebbt auch in den folgenden Wochen nicht ab. Nicht nur in der Presse, sondern auch durch das Medium der Postkarte werden die Gesichter der Vertreterinnen dieses bisher nur Männern vorbehaltenen Berufsstandes verbreitet. Die umfänglichste Serie verlegen die in Paris ansässigen Neurdein Frères und beinhaltet mehr als 200 Stück. Sie erscheint unter dem Titel Les femmes cocher, dem teilweise noch zusätzlich ein Übertitel – Paris nouveau oder Paris moderne – beigefügt ist. Daneben wird auf jeder Karte die abgebildete Kutscherin namentlich genannt nebst einer das Bildmotiv kommentierenden Bemerkung, deren inhaltliches Spektrum von neutral über launig bis hin zu anzüglich reicht. Alle Fotografien werden in der Stadtöffentlichkeit aufgenommen und gehen dadurch mit der Berufsrealität dieser Frauen eine enge Verbindung ein. Einige Motive spiegeln sogar eindrücklich den Aufruhr wider, den ihr Auftreten auslöste, indem im öffentlichen Raum anwesende Gaffer:innen mit aufs Bild kommen.

Die Konzeption dieser Postkartenserie wirft einige Fragen über deren Einordnung auf. Besonders die Tatsache, dass alle Kutscherinnen mit ihrem Namen ausgewiesen werden, hebt sie ab von herkömmlichen Darstellungen von im öffentlichen Raum arbeitenden Personen, wie sie etwa aus der Tradition städtischer Typen oder Kaufrufe – im Französischen „Cris de Paris“ genannt – überliefert sind. Der übergeordnete Serienkontext widerspricht wiederum der Annahme, dass die Karten im Auftrag der Kutscherinnen selbst entstanden sind, um der persönlichen Werbung zu dienen. Ein Blick auf diverse Seiten im Internet, wo Exemplare dieser Postkartenserie käuflich erworben werden können, untermauert deren hybriden Status. Dort werden sie beispielsweise unter den Rubriken „Paris“, „Berufe“, „Nahverkehr, oberirdisch“ oder „Frauenbewegung & Emanzipation“ klassifiziert.

Erst die Einbeziehung der städtischen Kulturgeschichte von Paris verschafft mehr Klarheit bezüglich der besonderen Voraussetzungen der Entstehung dieser Serie. Die Kunsthistorikerin Vanessa Schwartz beschreibt in ihrem Paris gewidmeten Buch Spectacular Realities (1998) anhand von unterschiedlichen Beispielen, darunter auch der Boulevardkultur, wie im späten 19. Jahrhundert die Realität selbst zur visuellen Attraktion wurde, die die Massen anzog. Die Literaturkritikerin Naomi Schor schlägt in ihrem Aufsatz „Cartes Postales. Representing Paris 1900“ (1992) in dieselbe Kerbe, wenn sie darauf hinweist, dass viele Besucher:innen der Weltausstellung im Jahr 1900 vorrangig nach Paris kamen, um die französische Hauptstadt als primäre Attraktion zu bewundern. Die Kutscherinnen sind gewissermaßen ein Fleisch gewordenes Phänomen dieser Zeit, in der sich die Schaulust auf das öffentliche Leben in den Straßen richtete. Viele Zeitungsberichte zeugen davon, dass diese Kultur des visuellen Spektakels auch gravierende Nachteile hatte. Nicht nur Behinderungen in der Ausübung ihres Metiers, sondern auch frauenfeindliche Beschimpfungen und Beleidigungen stellen die Kehrseite der Medaille dar, die die durch Dritte in die Wege geleitete Sichtbarkeit und Vermarktung der ersten Frauen auf dem Kutschbock mit sich brachten.

Christina Natlacen, 11. Juli 2023


 Grundlegende Informationen verdanke ich Juliette Rennes, „Cochères parisiennes, le risque en spectacle“, in: Travail, genre et sociétés, 36. Jg., H. 2, Nov. 2016, S. 37–59.



Permalink: https://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/Ambivalente-Sichtbarkeit.html

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