Ansichtskarten als Wissensvermittler
Eine heute weithin vergessene Rolle spielte dieses populäre Medium vor dem Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit im Unterricht und allgemein in der Wissensvermittlung. Seine Vorteile sah man in der leichten Verfügbarkeit und Variabilität, in der Anschaulichkeit sowie im handlichen Format. So ließen sich etwa im Geografie-Unterricht mit Hilfe von illustrierten Postkarten leicht thematische Tableaus erstellen, welche nicht nur der Illustration, sondern auch der Erkenntnisgewinnung dienten. In einer Fachzeitschrift hieß es dazu: „Drei bis vier Bilder sind oft genügend, um den Charakter einer Landschaft vollständig zum Ausdruck zu bringen, während ein Wandbild es nicht immer vermag, eine Anzahl von großen Bildern aber wohl selten zur Verfügung steht.“[1] Diese Potenziale beschränkten sich jedoch nicht nur auf topografische oder lokalhistorische Belange. Bereits um die Jahrhundertwende wurde die Ansichtskarte in Form der weitverbreiteten „Künstlerkarten“, welche Reproduktionen bekannter Gemälde und Grafiken transportierten, zu einem gebräuchlichen „Hilfsmittel künstlerischer Volksbildung und Kultur“.[2]
Dabei war die Verwendung von Ansichtskarten für die Wissensvermittlung und gar für den Schulunterricht eine Sache, ihre Herstellung extra für diesen Zweck eine andere. Ein bemerkenswertes Beispiel für letzteres stellen die Ansichtskartenserien von Leopold Indra aus den 1920er-Jahren dar. Indra war hoher Beamter im Ministerium für Handel und Verkehr in Wien und betätigte sich nebenher auch als Amateurhistoriker und Publizist. Zwischen 1923 und 1927 brachte er in drei „Ansichtskartenwerken“ mit mehreren Subserien insgesamt 90 Motive auf den Markt. Die drei Themenblöcke bezogen sich auf den Stephansdom (18-teilig), auf Schloss Schönbrunn (24-teilig) und auf die Geschichte der Stadt Wien (48-teilig). In der Sammlung des Wien Museums sind alle seine Ansichtskartenserien vertreten, die entweder bald nach ihrem Erscheinen angekauft oder von Indra selbst dem Museum gespendet wurden.
Nach dem Erfolg der Serien zu St. Stephan und Schloss Schönbrunn (sie enthielten jeweils eine Teilserie zur Geschichte und eine mit Innenansichten der Gebäude) entschloss sich Indra, eine „Geschichte der Stadt Wien auf 48 Ansichtskarten“ in acht Serien mit je sechs Karten herauszugeben. Aus dieser stammt auch das vorliegende Exemplar. Die Finanzierung und Abwicklung des Vorhabens sollte, wie es aus der Ankündigung in mehreren Zeitungen hervorgeht, über ein System von Bezugsanmeldung, Vorauszahlung und darauffolgender Lieferung an die Kund_innen erfolgen. Die Herstellung der Karten in qualitativ hochwertigem Kupfertiefdruck übernahm auch diesmal die Wiener Kunstdruck A.-G. – vormals Kunstanstalt Josef Löwy. Abgegeben wurden die einzelnen Teilserien in eigenen, beschrifteten Schutzumschlägen. Die Fotografien für die neueren Phasen der Stadtgeschichte erstellte Indra selbst oder übernahm sie aus öffentlichen Sammlungen – wie in unserem Beispielfall eine historische Aufnahme der k. k. Hof- und Staatsdruckerei – oder vom Stadtbauamt. Der letzte und achte Teil trug den Titel Die Ringstraße und Wien in der Gegenwart und präsentierte neben Opernhaus oder Parlament auch Leistungen des Roten Wien wie etwa das Amalienbad oder den Reumannhof.
Indras Karten zeichneten sich durch eine spezifische Kombination von Bild und Text aus sowie durch den Raum, der letzterem hier zuteilwurde. Die Erläuterungen zum jeweiligen Bild beziehungsweise zur Epoche wurden mit der dritten Serie noch etwas länger. Sie begannen bereits auf der Bildseite, setzten sich auf der Adress-Seite häufig fort und konnten mitunter die gesamte postalische Mitteilungsfläche einnehmen. Auf diese Weise konkurrierte die Wissenskommunikation auf der Ansichtskarte mit der (allfälligen) persönlichen Kommunikation der Absender_innen. Selbst das Adressfeld wurde zugunsten der historischen Erläuterungen ungewöhnlich stark verkleinert. Dergestalt schienen die Textlängen – zumal kleingedruckt – die Grenzen des Mediums auszuloten und konterkarierten gar die genuine, immanente Flüchtigkeit und Bildzentriertheit von Ansichtskarten. (Die Texte an sich waren inhaltlich eher lexikalisch und sachlich beschreibend. Dabei ist auch im zeitgenössischen Kontext auffallend, dass beispielsweise bei der Darstellung der spätgründerzeitlichen Stadtentwicklung Bürgermeister Karl Lueger unerwähnt blieb.)
Bis 1927 gelang es Leopold Indra, die geplante Serie zur Geschichte Wiens komplett herauszubringen und sogar bei der groß angelegten Schau Wien und die Wiener im Messepalast im Verkauf zu platzieren. Wie es dem Neuen Wiener Journal zu entnehmen ist, enthielten die Karten „instruktiv in Bild und Wort alles Wichtige aus dem historischen Wien von der vorgeschichtlichen Zeit an bis zur Gegenwart“ und waren zum Gesamtpreis von fünf Schilling an den Eingängen zur Ausstellung zu erhalten. Auf diese Weise dürften sie eine noch größere Verbreitung als zuvor gefunden haben, was sich heute noch im antiquarischen Ansichtskartenhandel niederschlägt. Auch die Kronenzeitung verwendete einige Male Bild und Text aus diesem Ansichtskartenwerk für die Artikelreihe Bilder aus der Geschichte Wiens. Ob die edukativ gedachten Karten hingegen auch im Unterricht und in Schulen Verwendung fanden, ist nicht bekannt. Ab Ende der 1920er-Jahre wandte sich Indra jedenfalls dem neuen Medium Hörfunk zu und hielt regelmäßig Radiovorträge zu lokalhistorischen Themen.
Sándor Békési, 7. September 2021
[1] Kartographische und Schulgeographische Zeitschrift, 9. Jg. (1921), H. 7–8, S. 115.
[2] Wiener Freie Photographen-Zeitung, 9. Jg. (1906), H. 4, S. 43.
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