Fritz Hrad (Fotograf), ohne Verlag: Ladenaufnahme mit sechs Frauen vor dem Textilgeschäft von Luise Lischka in der Argentinierstraße 50, Wien, 1926, Silbergelatinepapier, ungelaufen; Privatsammlung

Fritz Hrad (Fotograf), ohne Verlag: Ladenaufnahme mit sechs Frauen vor dem Textilgeschäft von Luise Lischka in der Argentinierstraße 50, Wien, 1926, Silbergelatinepapier, ungelaufen; Privatsammlung

Beiläufiges Fotografieren

In den letzten Jahren und Jahrzehnten kann parallel zum sukzessiven Verschwinden von alteingesessenen Einzelhandelsgeschäften in den Stadtzentren beobachtet werden, wie Fotograf*innen und Filmemacher*innen diese dem Vergessen zu entreißen suchen. Agnès Vardas bereits 1975 erschienener Dokumentarfilm Daguerréotypes, in dem sie sich mit viel Empathie dem Alltag in den Geschäften der Rue Daguerre in unmittelbarer Nähe ihrer eigenen Pariser Wohnung annähert, ist ein solches Beispiel, Aus der Zeit von Harald Friedl aus dem Jahr 2006, in dessen Mittelpunkt das unausweichlich näher rückende Schließen einiger ausgewählter Geschäfte in Wien steht, ein anderes. Friedls Film baut auf einer fotografischen Recherche von Petra Rainer auf, die zur Publikation En détail. Alte Wiener Läden (2002) führte. Vor kurzem machte das Projekt Geschäfte mit Geschichte. Waren aller Art in Wien von Martin Frey und Philipp Graf von sich reden, das sowohl online als auch als Fotobuchserie veröffentlicht wird. Alle diese visuellen Auseinandersetzungen sind von einem nostalgisch-melancholischen Zug durchdrungen, der das Verschwinden einer Konsumkultur, die als Gegenentwurf zu den heutigen Vertriebsstrukturen großer Konzerne erscheint, als Verlust beklagt.

Die fotografische Aufnahme von Geschäften mit besonderem Fokus auf die vorderseitige Front stellt ein eigenes Genre dar, das bis in das späte 19. Jahrhundert zurückreicht. Diese von Fotograf*innen, deren Namen heute nicht mehr überliefert sind, angefertigten Bilder zeigen in vielen Fällen zusätzlich die dort arbeitenden Personen, die sich entweder in der Eingangstüre oder vor dem Schaufenster postiert haben. Oft waren es ambulante oder Amateurfotograf*innen, die das Anfertigen und in Folge möglichst rasche Ausarbeiten der Bilder vornahmen. In der Mehrzahl der Fälle wurden die Abzüge auf Postkartenpapier hergestellt, da dieses Format verschiedene Gebrauchsweisen, die eine Abnahme mehrerer Stück erwarten ließ, begünstigte. Karin Walter widmet diesen Fotografien in ihrer Studie Postkarte und Fotografie (1995) einen eigenen Abschnitt. Sie fasst sie unter dem Begriff der „Häuserfotografie“ zusammen, der auch Aufnahmen von Wohnhäusern und dessen Bewohner*innen inkludiert. Im Folgenden soll angelehnt an den von Helfried Seemann und Christian Lunzer herausgegebenen Bildband Wiener Läden (1996) spezifischer von „Ladenaufnahmen“ die Rede sein.

Sechs weibliche Personen blicken auf der vorliegenden Real Photo Postcard (RPPC) in Richtung des Fotografen, dessen Identität durch einen Stempel auf der Adressseite bestätigt wird. Es handelt sich um Fritz Hrad, von dem, wie es im Lexikon zur Fotografie in Österreich 1839 bis 1945 (2005) von Timm Starl nachzulesen ist, vorrangig Aufnahmen von Wiener Geschäften und Lokalen überliefert sind. Er betrieb im Laufe seiner Tätigkeit seine „Foto Anstalt“ an mehreren Orten, zur Zeit dieser Aufnahme in der Grundsteingasse im 16. Bezirk. Luise Lischkas Textilgeschäft befand sich – zu verifizieren in Lehmann’s Wohnungs-Anzeiger für Wien von 1925 – in der Argentinierstraße 50 in Wieden. Die Textseite wartet aber noch mit einer weiteren Information auf: Handschriftlich wurde von einer der Frauen – möglichweise war es das junge Mädchen im Arbeitskittel am rechten Rand der Personengruppe – „Zum Andenken von [sic!] meiner Lehrzeit im Geschäft am 24.VI.1926“ nebst der Nennung der Namen der umseitig Abgebildeten vermerkt. Auch wenn die Ladenaufnahmen – insbesondere von den Eigentümer*innen der Geschäfte – als Werbemittel verwendet wurden, so ist ihnen doch gleichermaßen auch die Funktion als privates Erinnerungsbild eingeschrieben. Der Besuch des Fotografen erwies sich für das Lehrmädchen als glückliche Fügung, um in den Besitz eines Bilddokuments eines spezifischen Moments ihrer beruflichen Laufbahn zu gelangen, das sie offensichtlich im weiteren Verlauf ihres Lebens nicht aus der Hand gab – denn tatsächlich wurde die Postkarte nie verschickt.

Die Aufnahme wirkt nicht besonders sorgfältig kadriert, was wahrscheinlich teilweise auf das abfallende Terrain der Argentinierstraße zurückgeht: Während im Vordergrund sowohl der Gehsteig als auch im Anschnitt die Straße abgebildet ist, wurde der obere Rand der Ladenfront beschnitten, so dass nicht mehr die Befestigung der beiden Leuchten zu sehen ist. Auch befindet sich rechts neben den mittig platzierten weiblichen Personen ein Junge in kurzen Hosen im Bild, der offensichtlich als Zaungast – oft Gaffer genannt – unbeabsichtigt vom Fotografen seinen Weg mit auf das Bild gefunden hat. Überdies fällt auf, dass das Motiv nicht formatfüllend entwickelt wurde. Der Abzug wurde nicht ganz parallel zu den Kanten des Postkartenpapiers und mit welligen Ausläufern am oberen und unteren Rand wohl recht rasch erstellt. Der fotografische Ablichtungsprozess sowie die ästhetischen Merkmale dieser Postkarte deuten auf eine durch und durch beiläufige Entstehung der Aufnahme hin. Im Gegensatz zum Besuch eines Fotoateliers kam hier der Fotograf unangekündigt und bat die Anwesenden umgehend zum Posieren ins Freie. Man hatte keine Zeit, sich zurechtzumachen, vielmehr handelt es sich bei den Ladenaufnahmen um spontane Dokumente aus dem Alltag. Das Beiläufige, das den spontanen Gang in ein Geschäft ausmacht, wird hier sowohl vom Fotografen selbst als auch von den Posierenden verkörpert. Von daher ist es folgerichtig, dass auch zufällige Elemente mit aufs Bild kommen und dem Gehsteig als Schwellenbereich eine dominante Rolle zugewiesen wird. Möchte man heute diese visuellen Zeugnisse bewahren und die vergangene Zeit einfrieren, so täuscht dies doch darüber hinweg, dass es sich um ganz und gar ephemere Bilder handelte.

Christina Natlacen, 5. Oktober 2021



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