„Blos immer Karten?“
Stadt- und alltagshistorisch ist alleine schon die Vorderseite dieser am 4. Dezember 1929 von Wien‑Floridsdorf ins vorarlbergische Feldkirch verschickten Postkarte vom Floridsdorfer Spitz, produziert vom Wiener Verlag Josef Popper, höchst ergiebig: Die Straßenszene zeigt nicht nur das dichte Treiben an der Gabelung zwischen Prager und Brünner Straße in den 1920er Jahren, sondern gibt auch Einblicke in damalige Kleidermoden, die zeitgenössische Verkehrs- und Geschäftsinfrastruktur rund um den Spitz – vom Warenhaus bis zum Hotel-Restaurant – und in die Omnipräsenz großflächiger, direkt auf die Hausmauern gemalter Reklame, etwa „Thea-Margarine“ oder „Fulgor-Benzin“. Dass im Hintergrund der gerade Halt machenden elektrischen Straßenbahn noch die Werbung für einen Pferdehändler (Fritz Grünwald) zu sehen ist, macht einen der besonderen Reize der Bildseite dieser Karte aus.
Fast noch interessanter, weil vielsagend im Hinblick auf die soziale Wahrnehmung des Kommunikationsmediums Postkarte vor dem Zweiten Weltkrieg, ist jedoch die erboste Nachricht, die auf der Rückseite zu lesen ist: „Lieber Herr […]! Herzlichen Dank für die liebe Karte v. 29. XI. Mir ist weder die Tinte eingefroren noch meine Liebe erkältet, noch hab ich es nicht notwendig klar darüber nachzudenken. Es ist besser Sie denken klar darüber nach, warum habe ich der Thea schon so lange keinen Brief geschrieben? blos immer Karten? Herzlichst grüßt Sie Thea“.
Als Antworten auf Briefe „nur“ Karten zu schicken, und das vielleicht auch noch ohne gängige Entschuldigungs- und Ankündigungsformeln wie „Heute nur diese Karte“ und „Brief kommt demnächst“, galt vor allem innerhalb bürgerlicher Kreise als zutiefst unhöflich, wie Anett Holzheid in ihrem Beitrag zum Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart (Berlin/Boston 2020, S. 409–438) schreibt. Weil kurze Postkartentexte rascher und formloser verfasst werden konnten als ein klassischer Brief, billiger zu versenden waren und aufgrund des Massencharakters der Postkarte als weniger prestigeträchtig galten als kalligrafisch sorgsam ausgeführte Briefe auf teurem Briefpapier, wurde die Postkarte vielfach als „kommunikative Schrumpfform“ bewertet (Holzheid, Das Medium Postkarte, Berlin 2011, insb. S. 10–13). Lediglich anstrengende und weite Reisen, Erkrankungen, Rekonvaleszenz oder außerordentliche berufliche Belastung rechtfertigten das Schreiben einer Postkarte anstelle eines Briefs, so Holzheid. Postkartentexte vom späten 19. Jahrhundert bis weit ins 20. Jahrhundert sind daher voll von Entschuldigungen und Erklärungen, warum es heute nur für einen Brief reiche, und Versprechen, dass „ein „anständiger Brief“ „heute Abend“, „morgen bestimmt“, „nächstens“, „erst von Grado aus“ oder „vor Weihnachten“ kommen werde. Immer wieder wird das schlechte Gewissen der Schreibenden, den Konventionen und Erwartungen nicht zu genügen, spürbar, etwa in Form von inständigen Bitten, wegen der „Schreibschulden“ „nicht böse“ zu sein.
Eine rasche Kartenantwort auf einen Brief, oft eingeleitet mit Sätzen wie „Herzlichen Dank für deinen sehr lieben Brief“, erlaubte es jedoch immerhin, den Absender oder die Absenderin wissen zu lassen, dass der verschickte Brief gut angekommen war. Über diese Form der „Lesebestätigung“, dieses Zeichen des In-Kontakt-Bleibens, ließen sich zumindest kurzfristig Sorgen und Verstimmungen hintanhalten. Die Nutzung der Postkarte als „Interimsmedium zwischen zwei Briefen“ (Holzheid) verschaffte Zeit und ermöglichte es, die häufig dem Brief per Karte nachgeschickte Rückfrage „Hast du meinen Brief bekommen?“ und damit einen noch größeren Rückstau der „Schreibschulden“ zu vermeiden. Im Fall der enttäuschten Thea dürfte der Adressat ihrer Postkartennachricht in der Villa Gopp-Ardetzenberg in Feldkirch diese Interimsfunktion aber wohl über Gebühr ausgereizt haben – und es auch an Einsicht und respektvollem Ton fehlen lassen.
Martina Nußbaumer, 14. Mai 2024
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