Buntes Treiben auf der Wiener Freyung
Drei Augenpaare richten sich aus dem Bild heraus direkt auf die BetrachterInnen: Sie gehören einem Wäschermädel und einem als Gigerl bezeichneten Modegecken, beide den Darstellungskonventionen der Wiener Typen folgend, sowie einem Vertreter der Caniden, nämlich einem schwarzen Spitz. Kess stützt die Frau die Arme in die Hüften, nonchalant präsentiert sich der Mann mit einer Hand in der Hosentasche und schief auf dem Kopf sitzender Melone. Sie werden um ein in Rückenansicht gezeigtes Paar, das sich schmachtende Blicke zuwirft, ergänzt. Auffallend ist die bildparallele Anordnung dieser Figuren, die keinerlei Verbindung zueinander aufweisen und deren wichtigste Funktion die Kontaktaufnahme mit Personen außerhalb des Bildraums zu sein scheint.
Betrachtet man das die Freyung im 1. Wiener Gemeindebezirk bevölkernde Figurenarsenal dieser illustrierten Postkarte, so tut sich eine deutliche Kluft zwischen Vordergrund und Hintergrund auf. Zwischen dem Palais Ferstel links und dem Haus „Zum Goldenen Straußen“ und dem Haus „Zum rothen Mandl“ (den Vorgängerbauten des ab 1914 errichteten Bankgebäudes für die „Österreichische Creditanstalt für Handel und Gewerbe“) auf der rechten Seite findet sich eine dichte Ansammlung von Personen rund um Marktstände mit Schirmen und Pferdekutschen. Sie sind Teil einer städtischen Alltagsszene, wie sie seit den 1890er-Jahren dank dem Verfahren der Momentfotografie festgehalten werden konnte. Auch rund zehn Jahre später – die Karte selbst ist 1903 gelaufen – erregt ein Fotograf weiterhin im öffentlichen Raum Aufmerksamkeit; einzelne Blicke von PassantInnen zeugen davon. Einem ganz anderen Regime gehören die dominierenden Figuren im Vordergrund an. Tatsächlich waren sie zum Zeitpunkt der Aufnahme am abgebildeten Ort nicht anwesend, sondern wurden – wie man bei aufmerksamer Betrachtung erkennen kann – nachträglich ins Bild montiert. Sie entstammen einem Repertoire von Studioaufnahmen und repräsentieren stellvertretend Menschen im öffentlichen Raum. Urheber ist der auf der Postkarte namentlich genannte Charles Scolik, der sowohl ein Vorreiter der Momentfotografie als auch Inhaber eines renommierten Wiener Porträtateliers war. Dieser kreierte Staffagefiguren von großer Variationsbreite, die nach Lust und Laune vor wechselnden Hintergründen angeordnet werden konnten. Ziel war es dabei nicht, einen szenischen Zusammenhang zu schaffen – die Personen wurden mehr oder weniger behelfsmäßig durch die nachträglich eingezeichnete Pflasterung und ungefähre Schattenwürfe zu einem Ganzen vereinheitlicht –, sondern durch die Breite unterschiedlicher Typen verschiedene potenzielle KäuferInnen anzusprechen.
Dieses Figurenarsenal ist der Clou der Postkartenserien, die von den Prager Verlegern Lederer und Popper zu jener Zeit, als die Momentfotografie groß in Mode war, herausgegeben wurden. Vorliegendes Motiv mit dem Titel „Wiener Leben“ ist Teil der etwa 60 bis 80 Karten umfassenden Wien-Serie und nimmt augenzwinkernd das Geschehen in der Hauptstadt in den Blick. Die eingefügten Figuren sind austauschbar und beliebig miteinander kombinierbar; gelegentlich kommt es sogar vor, dass eine Person in verschiedenen Posen auf derselben Postkarte zu entdecken ist. Oft herrschen gekünstelt wirkende Haltungen vor, die das Gestellte der vorangegangenen Inszenierung im Fotografenatelier sichtbar machen. Tatsächlich handelt es sich bei manchen Vorlagen um Rollenporträts von SchauspielerInnen; so konnte etwa anhand einer Kabinettkarte aus der Sammlung des Theatermuseums (Wien) Auguste Klug als Darstellerin des Wäschermädels identifiziert werden. Lederer und Popper machten damit aus der Not eine Tugend: Da es sich um 1900 noch immer als schwierig gestaltete, Personen und Objekte in Bewegung scharf abzubilden, und bereits der Diskurs um das Recht am eigenen Bild ein Thema war, bediente man sich des vorgefertigten Materials verschiedener FotografInnen, um mittels Montage schnappschussartige Straßenszenen artifiziell herzustellen.
Die Postkartenserien von Lederer und Popper weisen noch eine weitere Besonderheit auf: Die Schwarzweißvorlagen wurden großteils koloriert, und zwar händisch, was man – wie in roten Lettern auf der Vorderseite zu lesen ist – als „Handcolorirte Künstlerkarte“ anpreist. Analog zur Anordnung der Figuren zeigt sich auch bei der Kolorierung ein spielerischer Zug. Der Vergleich mit einer herangezoomten Variation des Motivs verdeutlicht, dass die Farben zu einem gewissen Grad austauschbar sind und gleichsam „aus dem Handgelenk“ aufgetragen werden. Nicht nur die MonteurInnen, sondern auch die KoloristInnen besitzen innerhalb dieses modernen arbeitsteiligen Prozesses, der in der Verwendung von multipel einsetzbaren Staffagefiguren vor variablen Hintergrundmotiven ökonomischen Prinzipien gehorcht, ihre eigene ästhetische Freiheit.
Christina Natlacen, 15. Juni 2020
Herzlichen Dank an Helfried Seemann für die wertvollen Informationen und anregenden Diskussionen über die besprochene Postkartenserie.
Permalink: https://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/Buntes-treiben-auf-der-wiener-freyung.html