Der neue Naschmarkt im jungen Medium
Die schlicht gehaltene Fotopostkarte ist vollkommen anonym. Sie enthält weder auf den Fotografen noch auf den Verlag oder Auftraggeber irgendeinen expliziten Hinweis. Sie wurde auf Papier im Postkartenformat hergestellt und weist adressseitig die Überschrift „Der neue Naschmarkt in Wien“ auf. Aufgrund ihrer Inventarnummer in der Sammlung des Wien Museums zeigt sich bald, dass sie Teil einer Serie gewesen sein könnte. Weitere Recherchen erhärten die Annahme, wonach sie gar zu den ersten amtlichen topografischen Postkarten in Wien gehörte. Dies ist insofern von Interesse, als Ansichtskarten in der Regel das Ergebnis privatwirtschaftlicher Bildproduktion waren und bis heute sind.
Das Postkartenset mit insgesamt zehn Motiven gelangte im Jahr 1926 von der Magistratsabteilung 22 (damals „Gruppe V. Technische Angelegenheiten, Architektur“ – als Teil des Stadtbauamtes) in die Sammlung des Wien Museums. Doch nur drei der Sujets wurden mit der erwähnten Bezeichnung und den postalisch erforderlichen Aufdrucken (Teilungsstrich, Adress- und Briefmarkenfeld) versehen – und sind somit im eigentlichen Sinn als Ansichtskarte anzusehen. Eine Nummerierung der Motive oder Einzeltitel gibt es nicht. So haben wir es hier mit einer sehr kleinen Ansichtskartenserie beziehungsweise mit einer Bildfolge zu tun, die zeitlich, motivisch und ästhetisch sowie von ihrer Provenienz her eng zusammenhängt. Eine handschriftliche Notiz auf einer der Karten und die Jahreszahl ihrer Musealisierung deuten darauf hin, dass sie anlässlich des Ausscheidens von Stadtbaurat Friedrich Jäckel aus dem Wiener Magistrat den städtischen Sammlungen übergeben wurden.
Friedrich Jäckel war von 1901 bis 1926 Architekt im Wiener Stadtbauamt und unter anderem auch für die Neugestaltung des Naschmarkts bis 1916 verantwortlich. Für das Areal, das erst durch die fortgesetzte Einwölbung des Wienflusses und der Stadtbahntrasse bis zur Kettenbrückengasse entstanden war, erstellte er ein Marktkonzept, das zwei Verkaufsstraßen mit einer repräsentativen Mittelzeile und halboffene Hallen zur Unterbringung der Marktstände vorsah. Die Anlage schloss mit dem Marktamtsgebäude als einem Kopfpavillon bei der Kettenbrückengasse, den auch die vorliegende Aufnahme zeigt. Wie auch bei anderen großen Bauprojekten dieser Zeit beauftragte die Stadt Wien professionelle FotografInnen mit der Dokumentation der Bauarbeiten und der fertigen Anlagen. In unserem Fall ergab eine weitere Suche in der Museumssammlung, dass die Firma Kilophot (Fabrik photographischer Papiere und Kunstanstalt) eine Reihe von Aufnahmen vom neu errichteten und erweiterten Naschmarkt erstellte – darunter auch die Vorlagen für die hier behandelten Ansichtskarten. Bemerkenswerterweise waren auch die Fotografien selbst, die laut Prägestempel mit 1917 datieren und vermutlich exklusiv für das Stadtbauamt hergestellt worden sind, bislang nur wenig bekannt.
Das Wiener Stadtbauamt dürfte in vorliegendem Fall versucht haben, auch die Möglichkeiten des damals noch relativ jungen und sehr beliebten Bildmediums Ansichtskarte zu nutzen, um auf die Umgestaltung und Neuerrichtung des Naschmarktes sowie seiner Architektur aufmerksam zu machen. Und das war zur damaligen Zeit für eine Behörde noch eher ungewöhnlich, wenn wir etwa von den offiziellen Weltkriegspostkarten absehen. Doch die geplante Ansichtskartenserie vom neuen Naschmarkt blieb – möglicherweise kriegsbedingt – unvollendet und kam nicht zur Ausgabe. Es sind (zumindest dem Autor dieser Zeilen) keine gelaufenen oder weiteren, aus dem Handel stammenden Exemplare bekannt. Nichtsdestoweniger sollte die illustrierte Postkarte auch in Wien bald zu einem Instrument von Imagewerbung und Stadtmarketing werden. So finden sich unter den populären Bildträgern, welche die zahlreichen Gemeindebauten als kommunale Leistungsschau des Roten Wien ins Bild rücken, auch Ansichtskartenserien – unter anderem entstanden im Auftrag von oder in Zusammenarbeit mit dem Stadtbauamt.
Sándor Békési, 28. März 2021
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