Die Macht der Gewohnheit?
Schon auf den ersten Blick springt bei dieser von Großbritannien nach Sachsen versandten fotografisch illustrierten Postkarte die enge Verflechtung von Bild und Schrift ins Auge. Der Verfasser hat seine mit schwarzer Tinte angebrachte Nachricht nicht nur in der als homogener Weißraum erscheinenden Himmelszone eingefügt, sondern nützt des Weiteren auch die Meeresoberfläche auf der rechten Bildhälfte. Mehr Möglichkeiten hätte der Absender tatsächlich nicht mehr gehabt, zeigt sich doch das Motiv als äußerst detailreiche Aufnahme des sommerlichen Strandlebens in Southend-on-Sea, das östlich von London an der Einmündung der Themse in die Nordsee liegt. Zahlreiche Gäste und Erholungssuchende befinden sich auf der sich weit nach hinten schlängelnden Strandpromenade, während der Küstenstreifen vorrangig von Kindern und ihren Aufsichtspersonen bevölkert ist. Die äußerst belebte Szene wird um Holzboote ergänzt, die entweder an Stegen vertaut sind oder kleine Ausflugsfahrten unternehmen. Der umfassende und teils in die Fotografie hineinragende Text scheint das Leben und Treiben am Meeresufer noch zu steigern: Das motivische und schriftliche All-over hinterlässt den Eindruck, als ob der Schreiber in Anbetracht der noch letzten freien Bildflächen einen Horror Vacui empfunden hat, dem er entgegenzuwirken trachtet.
Southend-on-Sea zählt zu jenen britischen Seebädern, die im 19. Jahrhundert einen gewaltigen Boom erleben. Die neuerdings propagierte Gesundheitslehre, dass der Aufenthalt an der Küste gut für Körper und Seele sei, zieht mehr und mehr Gäste, auch aus dem Ausland, an. Als besondere Attraktion kann Southend-on-Sea mit einem bemerkenswerten Pier aufwarten, der auf dieser Ansicht von der Westseite jedoch nicht zu sehen ist. 1887 beginnen erste Arbeiten, um die Holzkonstruktion durch einen Eisenpier zu ersetzen. Nach dessen Erweiterung im Jahr 1897 wird er zum längsten Pier der Welt, der durch zahlreiche Attraktionen wie Konzerte und Vergnügungsmöglichkeiten eine Vielzahl an Besucher:innen anzieht, und auf dem zudem eine einspurige elektrische Straßenbahn fährt. Auch der Autor dieser Karte scheint von der Betriebsamkeit des englischen Seebades angezogen zu sein: Aus seinen Zeilen geht hervor, dass er ein Geschäft betreibt, das vor allem während der Sommermonate schönen Gewinn abwirft.
Dreht man die Postkarte um, wird man allerdings stutzig: Auch wenn es das Layout nur mit einem nach unten weisenden Pfeil subtil andeutet, so herrscht dennoch kein Zweifel daran, dass hier bereits eine geteilte Adressseite vorhanden ist. Großbritannien ist das erste Land weltweit, das 1902 diese Innovation einführt. Damit wäre es eigentlich möglich gewesen, bereits den Raum links vom Adressfeld für die schriftliche Mitteilung zu nützen (was davor untersagt war). War es die Macht der Gewohnheit, die den Verfasser im Jahr 1904 seine Zeilen auf der Bildseite anbringen lässt? Tatsächlich gibt der Vordruck der Karte einen Hinweis, dass das neue Recht nur mit Einschränkungen gilt: „This space may also be used for communication in the United Kingdom only.“ Hat die Royal Mail diese Regelung eingeführt, um den Versand in andere Länder zu benachteiligen? Welchen Nutzen kann sie daraus ziehen, wenn das vorhandene Textfeld ungenützt bleibt und man darauf angewiesen ist, weiterhin kreative Alternativen auf der Bildseite für seine Nachricht zu finden?
Tatsächlich muss man den Grund dafür auf der Seite der Zielländer suchen: Da Großbritannien mit der Umwidmung der linken Adressseite eine Pionierrolle einnimmt, hinken andere Länder nach. Nach deren Recht ist es noch immer ein Verstoß, Nachrichten auf der Textseite anzubringen, der mit Strafporto auf Seiten der Empfänger:innen geahndet wird. Deutschland, das in diesem Fall das konkrete Zielland ist, schließt sich erst ein Jahr nach dem Versand dieser Karte, also 1905, der von Großbritannien eingeführten Neuregelung an. Durch diese Inkongruenz im Postgesetz verschiedener Länder weisen in Großbritannien verkaufte Karten bis 1907, als schließlich die geteilte Rückseite international zum Standard wird, von Jahr zu Jahr unterschiedliche Angaben bezüglich der Nutzung der Adressseite für schriftliche Botschaften auf. [1] Daraus lässt sich ein eindeutiger Datierungsnachweis für die Herstellung der jeweiligen Karte ableiten: Als frühestmöglicher Zeitpunkt muss das Jahr 1902 angenommen werden, [2] als Terminus ante quem das späteste Jahr der Einführung der geteilten Rückseite in den namentlich genannten Zielländern. Herausgeber von Postkarten wie die Pictorial Stationery Company, eine der produktivsten Firmen im Bereich der Herstellung von frühen Bildpostkarten in Großbritannien, reagieren schnell auf die sich kontinuierlich verändernden Gesetzeslagen. Der Autor der Karte aus Southend-on-Sea weiß jedenfalls über das geltende Recht bestens Bescheid und nutzt die Textseite – analog zum Vorgehen auf einem Briefumschlag – lediglich zur Nennung seiner Postadresse.
Christina Natlacen, 2. Oktober 2024
[1] Eine Anzahl dieser Vordrucke, die sukzessive mehr Länder nennen, die Nachrichten auf der Adressseite erlauben, können auf https://undividedbackpostcard.com/a-little-history/ eingesehen werden.
[2] Obwohl das neue Postgesetz, das die geteilte Textseite einführt, ab Januar gültig ist, stammen die ersten wenigen erhaltenen Karten erst aus der zweiten Jahreshälfte. Vgl. ebd.
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