Die Stadtrundfahrt als kollektives Erlebnis
Dicht gedrängt sitzen mindestens siebzehn Personen und ein Kutscher in einem offenen Wagen und wenden ihren Blick in Richtung des Fotografen. Nicht alle Abgebildeten sind gleich gut zu erkennen; bedingt durch die Hutmode verschwinden manche Gesichter im Schatten einer ausladenden Krempe oder werden durch jemand anderen verdeckt. Eine Person in der hintersten Reihe wurde nachträglich mit einem Kreuzchen markiert. Dabei handelt es sich um eine durchaus nicht unübliche Praxis innerhalb der privat verwendeten Fotografie. Wir sind heute jedoch auf Spekulationen angewiesen, ob es sich wirklich bei der auf diese Weise hervorgehobenen Frau um die auf der Rückseite der Fotopostkarte angegebene „Tante Augustine“ handelt, deren Andenken damit bewahrt werden sollte – denn wer tatsächlich zu welchem Zeitpunkt und mit welchem Wissen die Beschriftung vorgenommen hat, bleibt im Dunklen. Auch die in derselben Handschrift (bei der es sich im Übrigen um einen zum Zweck der besseren Lesbarkeit nachgezogenen Schriftzug einer verblassenden Notiz handelt) notierte Jahreszahl „1903“ ist mit Vorsicht zu behandeln, steht sie doch im Widerspruch zur aktuellen Postkartenforschung, denn die postalische Verfügung zur Teilung der Adress-Seite im Deutschen Reich ist erst im Lauf des Jahres 1905 erschienen. Verlässliche Fakten bieten hingegen die recto und verso auf der Karte angebrachten Stempel: Sie bezeugen sowohl den Namen der dienstleistenden Firma (Münchner Fremden-Rundfahrt „Bavaria“) und ihres Inhabers (M. Holzmair) als auch den des Fotografen (Josef Poehlmann).
Die vorliegende Fotopostkarte ist nicht nur ein Zeugnis des zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkommenden Städtetourismus, sondern belegt gleichermaßen die Bedeutung der Fotografie für die Praxis des Erlebens und Erfahrens eines neuen Ortes. Dies wussten sich schon früh FotografInnen zu Nutze zu machen. An wichtigen Punkten verstärkten touristischen Personenaufkommens boten sie – mitunter ungefragt – ihre Dienste an. Strategisch besonders günstig erwiesen sich Plätze, an denen sich mehrere Menschen versammelten, um in Folge ein touristisches Fortbewegungsmittel zu nützen – etwa Ausflugsschiffe, Seilbahnen oder Touristenbusse. Der touristische Entstehungskontext legte es nahe, den Bildern eine Funktion einzuschreiben, die damit bestmöglich korrespondierte. Die Postkarte, die von Anfang an mit der Vermittlung von verschiedenen Orten und dem Bezeugen der Mobilität einer Person betraut war, scheint dazu geradezu ideal geeignet zu sein. Darüber hinaus war wichtig, dass die mobilen FotografInnen die Bilder möglichst rasch entwickeln konnten, damit ihnen die potenziellen KäuferInnen nicht wieder verloren gingen. Ludwig Hoerner hält in seinem Aufsatz Zur Geschichte der fotografischen Ansichtspostkarte (1987) fest, dass ab circa 1900 Bromsilberpostkarten angefertigt wurden, die sich dadurch auszeichneten, dass Porträts auf Papiernegativen aufgenommen und gleich innerhalb der Kamera, die Tanks mit den entsprechenden Chemikalien besaß, entwickelt wurden. So konnte man sie im Bestfall den KundInnen schon am Ende der Rundfahrt aushändigen. Andere FotografInnen, wie Timm Starl und Eva Tropper in dem Nachschlagewerk Identifizieren und Datieren von illustrierten Postkarten (2014) schreiben, verwiesen die abgebildeten Personen auf ihr Geschäftslokal, wo man sich wenig später den entsprechenden Abzug abholen konnte.
Der deutsche Autor Franz Hessel beschreibt gleich zu Beginn seines Textes „Rundfahrt“, der in seinem 1929 erschienenen Buch Spazieren in Berlin erschienen ist, wie noch immer das Erlebnis der Stadtrundfahrt an den Akt des Fotografiertwerdens geknüpft ist: „Mit einmal erhebt sich die ganze rechte Hälfte meiner Fahrtgenossen, und ich nebst allen andern Linken werde aufgefordert, sitzen zu bleiben und mein Gesicht dem Photographen preiszugeben, der dort auf dem Fahrdamm die Kappe vor der Linse lüftet und mich auf seinem Sammelbild nun endgültig zu einem Stückchen Fremdenverkehr macht.“ Hessel, ein Flaneur, der sich aus professioneller Neugierde und mit kritischer Distanz auf eine Rundfahrt in seiner Heimatstadt einlässt, bringt mit einem guten Schuss Ironie die Situation auf den Punkt: Das touristische Ereignis, das einer Verkaufslogik entsprechen soll, besteht in der Inszenierung eines Gemeinschaftserlebnisses. Jeder Anwesende wird Teil eines zufällig zusammengewürfelten Kollektivs, dessen Zusammenhalt allein darin besteht, ein Ticket für dieselbe Rundfahrt gelöst zu haben. Der Soziologe John Urry hat für solche Praktiken gemeinschaftlichen Sehens den Begriff des „collective gaze“ geprägt. Dieser veranschaulicht sich im Bild des von Menschen gefüllten Gefährts, das diesen Blick organisiert. Lange bevor man mit der eigenen Kamera seine Mitreisenden oder mit dem Mobiltelefon sich selbst knipsen kann, ist weniger das Individuum denn das Kollektiv ein Bildmotiv im Kontext des Städtetourismus. Beim Flaneur Hessel, der sich als ‚falscher Fremder‘ unter die TouristInnen geschummelt hat, obsiegt am Ende jedoch der individualistische Impuls: Nach seiner Fahrt durch ganz Berlin flüchtet er zu seinen Freunden ins Kaffeehaus.
Christina Natlacen, 7. Jänner 2021
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