Unbekannter Hersteller: „Brücke über die Donau. Wien“, undatiert (um 1935), Silbergelatinepapier, ungelaufen, Slg. Wien Museum

Unbekannter Hersteller: „Brücke über die Donau. Wien“, undatiert (um 1935), Silbergelatinepapier, ungelaufen, Slg. Wien Museum

Die halbierte Karte oder: Das plastische Bild

Wir sehen eine Nahaufnahme der Reichsbrücke in einem Stereobildpaar. Ursprünglich als „Kronprinz-Rudolf-Brücke“ im Jahr 1876 eröffnet, gehörte sie zu den ersten festen Donau-Überquerungen in Wien. (Offiziell wurde sie erst nach dem Ersten Weltkrieg in „Reichsbrücke“ umbenannt und wich Mitte der 1930er Jahre einem Neubau, der am 1. August 1976 einstürzte und sich damit ins kollektive Gedächtnis einbrannte.) Damals fuhr die Straßenbahn noch eingleisig über die Brücke, die beengten Platzverhältnisse führten zu häufigen Staus im Wagenverkehr. Umso erstaunlicher mag es erscheinen, dass im Bild fast nur FußgängerInnen zu sehen sind, aber praktisch kein einziges Fahrzeug. Unter normalen Verkehrsbedingungen musste der/die Fotograf/in also wahrscheinlich lange warten, bis der Auslöser der Kamera betätigt werden konnte. Es sei denn: Ab 1932 wurde die Brücke immer wieder wegen Überlastung vorübergehend für den Autoverkehr gesperrt. Aber warum hätte der/die unbekannte Fotograf/in die Aufnahme ausgerechnet an solchen, für eine charakteristische Brückendarstellung untypischen Tagen machen sollen? Und warum stereoskopisch? Diese Fragen führen zum vermutlichen Entstehungskontext dieser Karte und ihrem eigentlichen Zweck.

Die Stereofotografie, die mittels zweier Aufnahmen aus leicht verschobenen Blickwinkeln einen räumlichen Eindruck zu vermitteln sucht, war an sich nicht neu. So haben sich auch in Wien seit der zweiten Hälfte der 1850er Jahre zahlreiche stereoskopische Aufnahmen der Stadt erhalten, aufgezogen auf Untersatzkarton im Format von zirka 9 × 18 Zentimetern. Diese Art der Souvenirproduktion hielt sich bis zur Jahrhundertwende, als das neu aufkommende Medium der illustrierten Postkarte vielfach die Motive und die stereoskopische Darstellungsform übernahm. So waren Stereo-Ansichtskarten vor dem Ersten Weltkrieg durchaus verbreitet, wenn auch überwiegend bei einem bürgerlichen Publikum, das sich auch den entsprechenden Apparat zur Betrachtung leisten konnte und wollte. Auch ohne Hilfsmittel konnten solche Karten natürlich betrachtet werden, wenngleich das eigentliche Motiv höchstens die Hälfte der Bildseite einnehmen konnte. Generell dienten erfahrungsgemäß die Stereopostkarten dieser Zeit weniger dem Versand als vielmehr dem Sammeln. In der Zwischenkriegszeit wurde dieses Segment der Ansichtskarte, wie auch andere aufwendigere Darstellungs- und Reproduktionsverfahren, deutlich seltener.

Gleichzeitig wurden die Möglichkeiten der Stereoskopie für immer mehr Anwendungsbereiche erschlossen – von der Wissenschaft bis zum Unterricht. Auch Amateure begannen, die Ausdrucksform des „Raumbildes“ verstärkt zu nutzen. 1928 wurde die Österreichische Gesellschaft für Stereoskopie gegründet, die bald auch eine Ausstellung zum Thema veranstaltete. Ein Amateurfotograf und Vorstandsmitglied dieser Vereinigung beschrieb in der Wiener Zeitschrift Photo-Börse begeistert die Vorzüge der „Raumfotografie“ unter anderem für die Schule: „Nicht nur, dass das Lernen durch das plastische Bild ganz erheblich erleichtert wird, hinterlässt die packende Wirkung solcher Aufnahmen außerdem noch einen bleibenden Ein­druck; so viele sind leider nicht in der Lage, die zahlreichen Schönheiten der Heimat oder der Fremde erschauen zu können […].“[1]

Nun zu unserer Stereopostkarte: Sie ist kein Einzelstück, sondern Teil einer Reihe von mehreren Dutzend Ansichtskarten, die entweder Straßen und Plätze Wiens oder Exponate aus Wiener Museen zeigen. Der Stadtraum präsentiert sich oft ohne oder mit wenig Verkehr, als gelte es, die Gebäude und Bauwerke selbst zur Geltung zu bringen. Allen gemeinsam ist der (gleich oder ähnlich) handschriftlich aufgetragene und mitbelichtete Titel und die relativ einfache Herstellungsweise als Direktabzug und Fotopostkarte. Herstellerangaben und Datierungen fehlen gänzlich. Einen genaueren Hinweis auf letztere liefert ein weiteres Exemplar aus der Reihe, das explizit auf ein Bauvorhaben um 1935 Bezug nimmt.[2] Insgesamt lassen diese formalen und inhaltlichen Befunde – zusammen mit dem oben dargestellten fotohistorischen Kontext – vermuten, dass wir es hier mit einer Ansichtskarte zu tun haben, die eigens für den Schulunterricht produziert wurde. Möglicherweise von engagierten LehrerInnen für den Eigenbedarf und zur besseren Veranschaulichung konzipiert, die vielleicht gerade nicht an Wiener Schulen tätig waren. Die Verwendung von Bildpostkarten als didaktisches Mittel, nicht zuletzt in der Heimatkunde, lässt sich für die Zwischenkriegszeit auch an anderen Beispielen belegen (siehe dazu den Beitrag Nr. 98 des Bonartes-Postkartenarchivs). Das Besondere an vorliegendem Fall ist, dass die Ansichtskarten demnach von Anfang an nicht für kommerzielle und touristische Zwecke bestimmt waren.

Jedenfalls dürfte damit die Geschichte der klassischen stereoskopischen Ansichtskarte in Wien bald zu Ende gegangen sein. Und nach 1945 setzten andere Reproduktionsverfahren als der Echtfotoabzug die Tradition der dreidimensionalen Raumillusion auf Postkarten fort.

Sándor Békési, 26. März 2025


[1] Ed. H. Tropsch, „Die zweiäugige Kamera“, in: Photo-Börse, 1929, Nr. 12, S. 17.

[2] Für diesen Hinweis danke ich Helfried Seemann recht herzlich.



Permalink: https://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/Die-halbierte-Karte-oder-Das-plastische-Bild.html

Zurück