HDH-Verlag, Wien: „Wien – Kahlenberg mit Höhenstrasse u. Donau“ („Echt Photo / HDH / Bromcolor“; Verlagsnr. 3950), um 1960, gelaufen von Wien nach Innsbruck; Slg. Wien Museum

HDH-Verlag, Wien: „Wien – Kahlenberg mit Höhenstrasse u. Donau“ („Echt Photo / HDH / Bromcolor“; Verlagsnr. 3950), um 1960, gelaufen von Wien nach Innsbruck; Slg. Wien Museum

Die verdrehte Landschaft und das richtige Bild

Die vorliegende Ansichtskarte bildet zwei landschaftliche Sehenswürdigkeiten ab, die um 1960 längst zum gängigen motivischen Repertoire dieses Mediums in Wien zählten: den Kahlenberg mit der Höhenstraße und die Donau. Doch bald merkt man, dass mit dem Bild etwas nicht stimmen kann. Ortskundigen geht etwa der vorgelagerte Nussberg ab; und noch genaueren BetrachterInnen wird auffallen, dass die Ansicht nicht auf einer fotografischen Aufnahme beruht, sondern aus mehreren zusammengefügten Teilen besteht.

Tatsächlich haben wir es hier mit einer radikalen Bildmontage zu tun, die seitens der Hersteller der Karte augenscheinlich nicht einmal besonders sorgfältig kaschiert wurde. Während die Kamera den Kahlenberg aus west-südwestlicher Richtung mit der attraktiven Frontseite des Restaurants einfängt, ist der Blick auf die Donau und den Handelskai von Nord-Nordwesten aus gerichtet – noch dazu aufgenommen nicht vom Kahlenberg, sondern vom Leopoldsberg, der auf der Karte gar nicht zu sehen ist. Das heißt, die beiden landschaftlichen Bildelemente sind bis zu 90 Grad zueinander gedreht worden, um beide in einem Bild und in unmittelbarer Nachbarschaft und damit vermeintlich eindrucksvoller zeigen zu können. Der auf touristischen Ansichtskarten damals fast unentbehrliche Schönwetterhimmel und ein Abschnitt der Höhenstraße, beide ebenfalls eigens hineinmontiert, runden die Komposition ab. Die farbenfroh kolorierten Automobile lockern den Vordergrund auf und waren nicht zuletzt Ausdruck der Wirtschaftswunderzeit und der technischen Erreichbarkeit des beliebten Aussichtspunktes. So besteht die Postkartenansicht aus mindestens vier unabhängig voneinander entstandenen Aufnahmen, die eine Topografie suggerieren, die in dieser Zusammensetzung nicht existiert. Aber ist das Bild in diesem Fall deswegen „verfehlt“ oder gar „falsch“?

Manipulationen der Bildinhalte sind bei Ansichtskarten nichts Außergewöhnliches, sie dürfen vielmehr als medienimmanent gelten. Die topografische und überwiegend touristisch genutzte Postkarte zielt als kommerzielles Produkt in erster Linie darauf ab, eine gefällige, optimierte Ansicht herzustellen, die man gern von einer Reise oder von einem Spaziergang mitnimmt und an jemanden verschickt. Die Inszenierung einer solchen „schönen“ Ansicht wird häufig durch Eingriffe wie Retuschen, Montage und grafische Überarbeitungen bewerkstelligt. In der Regel bedeutet dies die Entfernung von „unerwünschten“ und die Hineinnahme von „wünschenswerten“ Bildelementen. Diese können freilich im Laufe der Zeit auch wechseln und unterliegen damit zeitgebundenen Sehpräferenzen und Werthaltungen. (Im vorliegenden Bild sind beispielsweise die Laternenmasten der Höhenstraße entfernt worden, da sie vermeintlich die harmonische Gesamtwirkung der Karte beeinträchtigt und – praktisch gesehen – die Kolorierung der Karte erschwert hätten.) Im Extremfall führen die Überarbeitungen zur Konstruktion topografisch völlig unzutreffender Situationen. Das ist etwa der Fall, wenn eine Ortsansicht durch einen dort gar nicht vorhandenen landschaftlichen Hintergrund – etwa einen Hochgebirgszug – ergänzt oder dieser deutlich überhöht dargestellt wird. Viel weiter können Ansichtskarten in der Zurechtbiegung der physischen Wirklichkeit gar nicht gehen, denn eine vollkommen künstliche oder verfremdete Darstellung eines Ortes oder einer Landschaft würde den Grundprinzipien des Mediums letztlich widersprechen: Dieses sollte ja beim Absender wie beim Adressaten – bei aller Attraktivität einer zweiten, künstlich geschaffenen Bildrealität – auch die Wiedererkennbarkeit lokaler Verhältnisse gewährleisten. Und diese basieren, abgesehen von rein symbolischen Darstellungen, vielfach auf einer unmittelbar wahrnehmbaren ersten Realität.

Aus all dem ergibt sich, dass die Ansichtskarte stets eine Balance zwischen topografisch genauer Darstellung und einer möglichst ansprechenden Ansicht, zwischen Abbild und Wunschbild sucht. Alles, was sich innerhalb dieses Spektrums abspielt, kann also kaum „falsch“ oder „verfehlt“ sein, sondern folgt anderen Kriterien. So könnte eine radikale Montage wie in unserem Fall folgerichtig auch als ein kreativer Akt der Wirklichkeitsverdichtung und Veranschaulichung angesehen werden. Denn sie vollbringt genau das, worum es bei diesem Medium in der Regel geht: auf anschauliche und gefällige Weise das touristisch Wesentliche hervorheben. Unser Beispiel bietet auf diese Weise eine Gleichzeitigkeit und ein enges Nebeneinander von Kahlenberg-(Restaurant)-Blick und Wien-Blick mit Donau, wie sie sonst nur mit zwei getrennten Bildern als Potpourri möglich wäre, die aber dadurch keine (scheinbare) Einheit bilden würden. So erweist sich der stark konstruktive Charakter der Ansichtskarte nicht bloß als ein kitschlastiger, effekthascherischer Nachteil, sondern im Gegenteil letztlich als ein Vorzug: eine Möglichkeit der Fokussierung darauf, was der/die BetrachterIn sehen soll beziehungsweise zu sehen sucht.

Sándor Békési, 28. Dezember 2020



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