Doppelt chiffriert
„Geheimschrift!“ Allein schon der mit Ausrufezeichen versehene handschriftliche Händlervermerk auf der Rückseite dieser Postkarte, die im Juni 1903 von Wien nach Bärn (Moravský Beroun) gelaufen ist, macht neugierig, was hier versteckt kommuniziert wurde. Die Vorderseite befördert diese Neugier umso mehr: Auf den ersten Blick sticht die chiffrierte Beschriftung ins Auge, die das Bildmotiv – eine Innenansicht des Kaiser-Franz-Josef-Saals im 1901 eröffneten neuen Dorotheum in Wien – in einer dichten Abfolge aus Zahlen, Trennstrichen und „x“-Markierungen umrankt und optisch gleichsam die enge Anordnung der Sesselreihen im Auktionssaal fortsetzt. Lediglich zum Abschluss der Nachricht am linken Kartenrand wechselt die Handschrift vom Chiffremodus in den Textmodus und endet mit den Worten „Mit Gruß“; das Wort beziehungsweise der Name dahinter – „ella“ (?) – bleiben allerdings unleserlich.
Was der Absender oder die Absenderin an das „Wohlgb. Fräulein Sophie Halbgebauer“ in Bärn – eine Adresse war als nähere Ortsangabe offenbar nicht notwendig – kommuniziert haben mag und ob die Verschlüsselung der Botschaft lediglich spielerisch intendiert (und gar nur simuliert) war oder ob sie tatsächlich triftige Geheimhaltungsgründe hatte, muss Gegenstand der Spekulation bleiben. Einen kleinen Hinweis könnte ein zweites Codierungselement auf dieser Karte geben: die auf der Rückseite in der linken unteren Ecke im 315-Grad-Winkel schräg aufgeklebte Briefmarke. Solche auffälligen Variationen von Position und Neigungswinkel waren Teil einer eigenen Briefmarkensprache, die sich, so Anett Holzheid in ihrem Buch Das Medium Postkarte (Berlin 2011), im ausgehenden 19. Jahrhundert wachsender Beliebtheit erfreute und vor allem zu Flirtzwecken unter jungen Liebenden benutzt wurde. Mehrheitlich waren es ab 1900 männliche Sender, die via Briefmarkensymbolik an weibliche Empfängerinnen kommunizierten. Missverständnisse ließen sich dabei allerdings nicht ganz ausschließen, da sich die Bedeutungszuschreibungen zu den einzelnen Briefmarkenpositionen im Lauf der Zeit veränderten und eine gelingende Kommunikation die Vorabverständigung über den verwendeten Kodier- und Dekodierschlüssel erforderte. Eine im 315-Grad-Winkel angebrachte Briefmarke wie die vorliegende konnte, wie Holzheid anhand eines Vergleichs von deutschsprachigen (De-)Kodierhilfen und Postkartenbeispielen seit den 1880er Jahren zeigt, wechselweise etwa „Schreibe sofort!“, „Du bist eifersüchtig!“, „Ewige Treue schwöre ich dir.“, „Behalte mich lieb. Ich warte Dein.“, „Um welche Stunde?“ oder „Mein Herz ist schon vergeben.“ bedeuten. In einer – passenderweise gleich in Postkartenform gedruckten – englischsprachigen „Language of stamps“, die in Guy Atkins Buch Come Home at Once. Intriguing Messages from the Golden Age of Postcards (London 2024) dokumentiert ist, bedeutete eine solcherart geneigte Marke schlicht „I love you“.
Nicht nur zur Briefmarkensprache, auch zu Chiffrenschriften und zur „Geheimschreibekunst“ auf Postkarten zirkulierten ab den 1870er Jahren etliche Anleitungen und Publikationen. Die offene Form der Postkartenkorrespondenz, die ungewollte Mitleser*innen immer mitdenken musste, beförderte das Spiel mit Geheimcodes unterschiedlicher Art, wobei offenbleibt, wie geheim diese angesichts so vieler publizierter Decodierungshilfen tatsächlich blieben. Eine „generelle Entschärfung der Problematik möglicher Inspektionen“ und potenziell konflikthafter Situationen in der Familie oder in anderen Beziehungszusammenhängen war damit, so Holzheid, wohl kaum möglich. Bisweilen mögen ganz offensichtlich codierte Botschaften auch den gegenteiligen Effekt gehabt und erst recht die Neugier befördert haben, welche Nachrichten denn hier ausgetauscht wurden.
Sollte es sich im vorliegenden Fall tatsächlich um eine Liebeskorrespondenz gehandelt haben, überrascht die Wahl des Bildmotivs, das den zentralen, über zwei Stockwerke reichenden repräsentativen Auktionssaal des Dorotheums zeigt, der hier offenbar kurz vor einer Auktion von Musikinstrumenten und Kutschen abgelichtet – oder mit besonders eindrucksvollen und großen Objekten extra für das Foto in Szene gesetzt – wurde. Die von der Gesellschaft für graphische Industrie verlegte Karte dürfte Teil einer mehrteiligen Serie gewesen sein, die kurz nach der Eröffnung des nach Plänen von Emil Ritter von Förster errichteten Neubaus in der Dorotheergasse wohl nicht zuletzt zu Werbezwecken produziert wurde; in der Sammlung des Wien Museums ist auch eine zweite, mit demselben Herstellerkürzel des Autotypieklischees („MP“, was für Max Perlmutters chemigrafische Kunstanstalt steht) versehene Karte mit einer Ansicht der Haupttreppe des Dorotheums erhalten. War die Karte einfach zufällig da, weil der oder die Absender*in dem Dorotheum zuvor einen Besuch abgestattet hatte oder dort arbeitete, und das Motiv von keinerlei Bedeutung? Bezog sich die Nachricht auf ein vergangenes oder künftiges Auktionsgeschehen? Oder war der Auktionssaal ein Ort, an dem sich Sender*in und Empfängerin schon begegnet waren und der so als Referenz diente? Die Auflösung von Fragen wie diesen bleibt für heutige Leser*innen ebenso verschlossen wie für Zeitgenoss*innen um 1900, die nicht über den richtigen Decodierungsschlüssel verfügten.
Martina Nußbaumer, 29. November 2024
Permalink: https://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/Doppelt-chiffriert.html