

Eigenwerbung via Postkarte
„Sándor bácsi“ (Onkel Sándor), mit bürgerlichem Namen Sándor Ungar (geboren 1876 in Eisenstadt/Kismarton), gehörte zu den Wiener Originalen der Jahrhundertwende und der Zwischenkriegszeit. Zu seinem Ruf als „Straßenkönig“, „lebender Wegweiser“ und „wandelnder Lehmann“ dürfte nicht nur sein Werk selbst, sondern auch die Selbstpromotion erheblich beigetragen haben, die er unter anderem mit Hilfe von Ansichtskarten betrieb.
Zunächst taucht Ungars Name um 1900 in Wiener Zeitungen auf. Damals bezeichnete er sich als „Kunstpfeifer“ und sandte regelmäßig auch Rätselauflösungen oder Kuriositäten etwa aus Zahlenkombinationen an die Redaktionen ein. Eine gewisse Bekanntheit wurde ihm zuteil, als er im Kaiser-Jubiläumsjahr 1908 Bürgermeister Lueger ein umfangreiches Album präsentierte, das Zeitungsartikel und Bildmaterial mit Bezug zum Namen von Wiener Straßen und Plätzen beinhaltete. Sogar die Neue Freie Presse und die Illustrierte Kronen-Zeitung berichteten über diese Widmung. Das Album trug den Titel Rund um Wien. Die Wienerstadt in Wort und Bild. Illustrierte Straßengeschichte der XXI Bezirke Wiens und sollte Ungar noch Jahre lang beschäftigen.
Er schien nämlich die Arbeit sogleich fortzusetzen und ersuchte via Zeitungsartikel um sachdienliche Spenden in Form von Büchern oder Fotografien, um dieses Sammelwerk vervollständigen zu können. Zugleich stellte Ungar das Album für Interessierte in einem Kaffeehaus täglich von fünf bis neun Uhr abends zur Verfügung. Was seine Motivation für diese Aktivität war, wissen wir nicht. Möglicherweise haben wir es in diesem Fall mit einer Mischung aus lokalhistorischem und autodidaktischem Interesse, volksbildnerischem Anspruch oder vielleicht auch mit einem gewissen Geltungsdrang zu tun.
Reklame-Ansichtskarten Ungars sind aus der Zeit um 1930 überliefert (eine in diesem Milieu durchaus verbreitete Praxis). Sie wurden im Selbstverlag und als Drucksache mit einem Porträt sowie aufgedrucktem Autogramm hergestellt. Auf diesen Karten rühmte er sich (damals bereits Militäroberoffizial in Ruhestand), unter anderem sämtliche Gassen und Plätze Wiens sowie die historische Bedeutung jeder Straßenbezeichnung auswendig zu kennen. Angesichts der Tatsache, dass es damals schon Abertausende von Straßennamen in Wien und bereits einschlägige Publikationen zum Nachschlagen gab, eine gewagte Behauptung und zugleich ein müßiger Anspruch. Doch ist Ungar auch in der Tradition der Schaustellerei und Gedächtniskünstler zu sehen und zu verstehen, selbst wenn er für seine „Kunst“ offensichtlich keine finanziellen Zuwendungen verlangte. Zur Schau gestellte Mnemotechnik erfreute sich zu seinen Lebzeiten tatsächlich großer Popularität. So war auch bei der zu seinen Ehren abgehaltenen Feier anlässlich seines 60. Geburtstages auf der Kaiserwiese im Prater geplant, dass Ungar seine topografischen Kenntnisse erneut vor Publikum beweisen wird (siehe die Ankündigung „Sandor-bacsi jubiliert“, in: Neues Wiener Journal, 20. August 1936, S. 10).
Aus der Beschriftung der Postkarte erfahren wir ebenfalls, dass das bereits erwähnte Sammelalbum – diesmal in einer anderen Wiener Lokalität – zur freien Besichtigung öffentlich ausgestellt war und mehr als 3000 Illustrationen enthalten haben soll. Das bis 1935 auf drei Bände angewachsene „Lebenswerk“ Ungars dürfte jedoch heute nicht erhalten sein, zumindest taucht sein Titel in öffentlichen Sammlungen bislang nicht auf. Private Sammlungen von Zeitungsartikeln und Bildkonvoluten waren in dieser Zeit an sich nichts Außergewöhnliches. In ihnen verband sich, sofern es um vergleichbare Themen ging, das gesteigerte Interesse an der historischen Stadt („Alt-Wien“) und dem Heimatgedanken mit der zunehmenden Vielfalt und Zugänglichkeit von illustrierten Print- und Massenmedien. Am bekanntesten auf diesem Gebiet ist wohl die umfangreiche Sammlung von händisch nachkolorierten Zeitungsillustrationen und Stadtansichten von Karl Blaschke aus den Jahren von etwa 1900 bis 1910, die in der Wienbibliothek im Rathaus verwahrt wird. Ob Sándor Ungars eigenwilliges Werk in diesem Zusammenhang besonders hervorsticht, lässt sich nur schwer beurteilen. Die Werbung dafür hat sich jedenfalls ins Repertoire von Wiener Ansichtskarten eingeschrieben.
Sándor Békési, 17. Jänner 2023
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