Ein Trachtenmotiv, zweifach verwendet: Fragen zur Produktion von visuellen Diskursen
Die Darstellung von „Tracht“ spielte in der visuellen Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle – auch auf Postkarten. Trachtenmotive und sogenannte „Volkstypen“ prägten die Vorstellungen von der Erscheinung bestimmter Gruppen und gaben vor, typisch und spezifisch für bestimmte Regionen zu sein. Doch wie kohärent waren diese visuellen Diskurse?
Nähert man sich dieser Frage einmal von einer produktionstechnischen Seite, so lassen sich interessante Einsichten gewinnen. Um 1900 organisierte sich der Markt für Postkarten in vieler Hinsicht überregional. Das gilt auch – und darum soll es im Folgenden gehen – für das Phänomen der sogenannten Blanko- oder Rahmenkarten: Diese zierten vorfabrizierte visuelle Elemente, unter anderem auch Trachtenfiguren, die Raum für das spätere Einkopieren von Ansichten ließen. In der Papier- und Schreibwarenzeitung, verlegt in Wien, werden in den Jahren um 1900 etwa Vordrucke von mehreren deutschen Firmen besprochen, so von der Kunstanstalt Knackstedt & Näther (Hamburg) oder von dem Papierhersteller Winkler & Schorn (Nürnberg). Letzterer legte „eine Collection geprägter Blancokarten“ mit unterschiedlichen Rahmen und Blumengirlanden „für Eindrucke von Ansichten, Reclametexte oder zum Einkleben von Lichtdruckansichten, Amateurphotographien“ vor.[1] Offenbar konnten von solchen Firmen vorfabrizierte Karten von Verlegern bestellt werden, die in einem zweiten Arbeitsschritt die gewünschte fotografische Ansicht einfügten – also ein arbeitsteiliger Produktionsprozess.
Das abgebildete Beispiel, eine Karte mit dem Titel „Hirschfütterung in Mürzsteg“, ist ein Beispiel dafür: Die Trachtenfigur war hier im Verfahren der Chromolithografie vorproduziert und mit einer Prägung versehen worden, während die im Titel benannte Ansicht – Tiere und eine Futterkrippe im verschneiten Wald – wohl erst in einem nächsten Arbeitsgang im Lichtdruckverfahren in diese Vorlage eingedruckt worden ist.
Betrachtet man dieses Ensemble mit einem semiotischen Interesse, so verankert die Trachtenfigur die Ansicht in einem alpinen Setting. Das obersteirische Mürzsteg wird als ein Ort in den Bergen lesbar – das geben Berggipfel im Hintergrund ebenso zu verstehen wie die sogar doppelt platzierten Alpenblumen. Die Frau wiederum scheint für diese Region zu stehen, sie zu repräsentieren. Sie trägt einen grünen Hut sowie ein Dirndl, dessen Bezüge allerdings nicht unbedingt als ortsspezifisch ausgemacht werden können. Mit seinen Schnürungen und Knöpfen verweist es eher diffus auf einen erweiterten süddeutschen Raum.
In der Tat zirkulierte diese Rahmenkarte keineswegs nur für die Region rund um Mürzsteg. Das zeigt ein zweites Beispiel: Hier begegnet uns die gleiche Frau in Tracht, allerdings kombiniert mit einer Ansicht von Celje in der – damals zur Habsburgermonarchie gehörigen – Untersteiermark/Spondnja Štajerksa, 248 Kilometer südlich des obersteirischen Mürzsteg. Von einem alpinen Setting kann in dieser Kleinstadt an der Savinja keine Rede sein, und auch Enzian und Edelweiß gedeihen hier wohl kaum. Wurde mit einer solchen Kombination die Zugehörigkeit des zweisprachigen Celje zur deutsch dominierten Mittel- und Obersteiermark demonstriert? Oder zirkulierte diese Rahmenkarte vielleicht gar nicht nur für steirische Orte, sondern darüber hinaus?
Die beiden Fundstücke werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten können. Es ist nicht zu eruieren, von wem die Rahmenkarte mit der Frau in Tracht hergestellt worden ist. Zwar finden sich auf beiden Karten Verlagsangaben, aber diese verweisen mutmaßlich nicht auf den überregional agierenden Hersteller des Rahmenmotivs, sondern auf die zwei Verleger – Paul Heidenhaus in Mürzzuschlag und Georg Adler in Celje, die offenbar die lokale Differenzierung des Vorprodukts verantworteten.
Es wäre interessant, sich auf die Suche nach weiteren Exemplaren zu begeben und die Fragen, die diese beiden Beispiele aufwerfen, weiterzuverfolgen. Welche geografischen Räume deckten solche Trachtendarstellungen ab, wo überall tauchen sie auf? Wer waren die überregionalen Anbieter, die Rahmenkarten mit Trachtenmotiven im Sortiment führten, und auf welche geografischen Reichweiten ihrer Produkte setzten sie? Und schließlich: Wie waren solche Karten beteiligt an Diskursen über regionale Spezifik und Authentizität, welche identitätspolitischen Vorstellungen halfen sie so mit in die Welt zu setzen?
Eva Tropper, 11. August 2021
[1] Papier- und Schreibwarenzeitung. Fachorgan für den Papier- und Schreibwarenhandel und Industrie, Buchbinderei, Cartonnage-Fabrication etc., Wien, 1901, Heft 12, S. 3.
Permalink: https://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/Ein-Trachtenmotiv-zweifach-verwendet-Fragen-zur-Produktion-von-visuellen-Diskursen.html