Neue Photographische Gesellschaft, Weltpostkarte mit dem Buchstaben „A“ (Serie 195 mit einem aus Holzelementen gebildetem Alphabet), gel. am 3. Okt. 1904 nach Bahrenfeld bei Hamburg, Bromsilbergelatine, Privatslg.

Neue Photographische Gesellschaft, Weltpostkarte mit dem Buchstaben „A“ (Serie 195 mit einem aus Holzelementen gebildetem Alphabet), gel. am 3. Okt. 1904 nach Bahrenfeld bei Hamburg, Bromsilbergelatine, Privatslg.

Ein zum Bild gewordener Buchstabe

Einzelne Buchstaben, die gestalterisch hervorgehoben und von bildlichen Elementen ergänzt beziehungsweise aus diesen geschaffen werden, sind unter dem Begriff „Initiale“ bekannt. Sie spielen in der mittelalterlichen Buchmalerei eine wesentliche Rolle, wo sie die Aufgabe haben, eine Textseite zu gliedern und mit der Markierung eines neuen Abschnitts eine bessere Lesbarkeit zu ermöglichen. Die Formen, die Zierinitialen annehmen können, umfassen ein breites Spektrum, das von einer rein ornamentalen Ausschmückung bis hin zur Illustration des Textes reicht. Die meist in religiöse Handschriften oder Druckwerke eingefügten Initialen werden sukzessive säkularisiert und finden schließlich als Bildbuchstaben in unterschiedlichen weltlichen Kontexten ein Fortleben.

Kurz nach 1900 bringt die Neue Photographische Gesellschaft (NPG) eine Postkartenserie heraus, die jeweils einen einzelnen Buchstaben des Alphabets als zentrales Bildmotiv im Hochformat darstellt. Sie werden aus Baumstämmen gebildet, die wie die idyllischen Landschaften im Hintergrund einer gezeichneten Vorlage entspringen. So besteht das „A“ aus einem dicken und einem dünnen Schaft, aus dem ein zarter vegetabiler Ast abzweigt, der den Querbalken bildet. Der aus Holz geformte Buchstabe wird von einmontierten Figuren bevölkert, die auf Fotografien zurückgehen. Auf allen 26 Karten, die auch als kolorierte Version existieren, sind es ausschließlich Frauen und Kinder, die den Raum rund um das Schriftzeichen bevölkern.

Die von Arthur Schwarz gegründete und ab 1897 in Berlin Steglitz ansässige NPG gehörte zu den größten Produzenten von Postkarten und erlebte in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts ihre goldene Ära. Ihr Repertoire umfasste über 15.000 Postkartenmotive, die über Tochterunternehmen international vertrieben wurden. Auch in der Produktion brach die NPG alle bisherigen Rekorde. Sie führte die Bromsilber-Postkarte ein und entwickelte mit der sogenannten „Kilometer-Fotografie“ ein vollautomatisiertes Verfahren, mit dem bis zu 40.000 Karten pro Tag hergestellt werden konnten. Die Figuren weisen samt ihrer Kleidung Ähnlichkeit zu anderen Motiven von Glückwunsch-, Liebes- und Genrekarten der NPG auf. Es ist davon auszugehen, dass im Studio diverse Posen auf Vorrat produziert wurden und diese Vorlagen dann vor unterschiedlichen Hintergründen eingefügt wurden (siehe dazu auch Postkartentext Nr. 82).

Illustrierte Postkarten mit Zieralphabeten verweben Schrift und Bild zu einer dekorativen Einheit. Die Tatsache, dass die erste Charge des Baum-ABCs, die noch eine ungeteilte Adressseite aufweist, keinen dezidierten Weißraum für eine schriftliche Mitteilung reservierte, spricht dafür, dass die vorliegende Serie bildmäßig konzipiert wurde und vorrangig als Sammelobjekt bestimmt war. Damit fügt sie sich, wie Eva Tropper in ihrem Aufsatz „Bild/Störung“ (Fotogeschichte, 2010, H. 118) darlegt, in eine allgemeine Tendenz der Gestaltung von illustrierten Ansichtskarten zu dieser Zeit ein, die dadurch charakterisiert ist, dass das Motiv die Bildseite komplett ausfüllt. War es den Absender:innen dennoch wichtig, der Karte persönliche Zeilen hinzuzufügen, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich dafür Raum zurückzuerobern, indem sie den frei gebliebenen Hintergrund dazu nutzten beziehungsweise die Bilder überschrieben. Buchstaben-Karten zeichnen sich im Gegensatz zu anderen Genres allerdings dadurch aus, dass die ausgewählte Initiale verstärkt als Aufforderung verstanden wurde, davon eine Botschaft abzuleiten. Am augenscheinlichsten wird der Bild-Text-Bezug, wenn der Absender oder die Absenderin einen semantischen Zusammenhang zwischen Initiale und Empfänger:in herstellt. So ist es auch im Fall der vorliegenden Karte sicherlich kein Zufall, dass der Name der Adressatin „Alwine“ lautet. Nicht immer muss der ausgewählte Buchstabe eine Hommage an den Empfänger oder die Empfängerin sein, gleichermaßen ist es denkbar, dass er als Kürzel für die Absender:innen eingesetzt wird, um auf dem offenen Mitteilungsträger deren Klarnamen nur mit der Initiale anzudeuten. Ebenso kommt es vor, dass das Schriftzeichen Impulsgeber für den Text ist und als Anfangsbuchstabe eines zentralen Begriffs der Nachricht fungiert. Das Genre der Buchstaben-Karten erweist sich damit als Katalysator für kreative Strategien, die Bild und Text miteinander verschränken und eine komplexe gegenseitige Bezugnahme ermöglichen.

Christina Natlacen, 29. Jänner 2024



Permalink: https://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/Ein-zum-Bild-gewordener-Buchstabe.html

Zurück