Eine Beschwörung des Unsichtbaren
Der junge italienische Landschaftsmaler Guido Boggiani (1861–1901) tauschte auf seinem zweiten Südamerika-Aufenthalt von 1896 Pinsel und Palette gegen eine aufwendige fotografische Ausrüstung. Diese sollte ihn, folgenschwer, zu den damals noch weitgehend unkontaktierten Völkern des Gran-Chaco-Gebiets im Inneren des Kontinents begleiten. Seine frühere Reise dorthin hatte dem Abenteurer Boggiani den Ruf eines ethnografischen Pioniers eingetragen, als der er in europäischen und südamerikanischen Metropolen auch zunehmend auftrat. In seiner Korrespondenz mit dem am Museo de La Plata in Buenos Aires tätigen deutschen Anthropologen Robert Lehmann-Nitsche (1872–1938) kündigte Boggiani einen fotografisch-anthropologischen Atlas „dieses unsichtbaren Stamms“ des Gran Chacos an, dem er durch seine fotografische Expedition Gestalt verleihen wollte.
Die beiden Ganzkörperporträts des Millet, eines rund 40-jährigen Chamacoco (in der Eigenbezeichnung Ishír) aus dem äußersten Nordosten von Paraguay, gehören zu den ursprünglich 400 Fotografien aus diesem Vorhaben. Während Boggiani im standardisierten Raster der Anthropologie Frontal- und Profilaufnahmen anfertigte, inszenierte er Millet darin zugleich andeutungsreich als Schlangenbeschwörer. Eine Boa windet sich um dessen nackten Körper, ihren Kopf hält er kontrollierend in der Hand und verdeckt in dieser Geste zugleich sein Geschlecht. Im Motiv der Beschwörung der phallischen Schlange aus der Malerei des Orientalismus offenbart sich der westliche sexualisierte Blick auf den „exotischen“ Körper. Durch den ausgebildeten Maler Boggiani in die anthropologische Fotografie „unsichtbarer“ Indigener übertragen, erfährt das Sujet in den ernsten, beherrschten Aufnahmen des Millet eine besondere Aufladung.
Guido Boggiani kehrte von seiner fotografischen Gran-Chaco-Expedition nicht mehr zurück. Ein 1902 von Asunción ausgeschickter Suchtrupp fand den schon länger Vermissten mit seinem Begleiter enthauptet daliegend, seine Kamera und etliche belichtete Negative aber vergraben vor – ein Tatort, der bis heute für Spekulationen sorgt. Das Gros von Boggianis Negativplatten hatte überlebt, da er sie regelmäßig an die Sociedad Argentina de Fotógrafos Aficionados gesandt hatte. Wenige Jahre später gelang es dem tschechischen Kakteenspezialisten Alberto Vojtěch Frič (1882–1944), auch Boggianis fotografische Ausrüstung aus der Erde des paraguayanischen Tieflands zu bergen. Dessen letzte Negative konnten allesamt entwickelt werden und befinden sich bis heute in Obhut der Familie Frič in Prag.
1904 gab Robert Lehmann-Nitsche einhundert Fotografien, die er nach anthropologisch-ethnografischen Kriterien gruppierte und durchnummerierte, in einer zweisprachigen deutsch-spanischen Edition für das Museum in Buenos Aires heraus – jedoch nicht als anthropologischen Atlas wie von Boggiani vorgesehen, sondern im damals auch in Südamerika überaus populären Postkartenformat. Mit Bildpostkarten, so Lehmann-Nitsche im Vorwort zur Edition, könne gegenüber einem gebundenen Werk „das Zusammengehörende zusammen“ ausgebreitet werden, was für ein wirkliches Studium von größter Wichtigkeit sei. Ergänzt durch das Porträt des umgekommenen Boggiani wurden die Fotopostkarten im Deutschen Reich heliograviert und vom großen Verlagshaus des in Buenos Aires ansässigen Österreichers Roberto Rosauer († 1940) vertrieben. Sie fanden Eingang in zahlreiche institutionelle völkerkundliche Sammlungen und zirkulierten in mehreren, teilweise kolorierten Neuauflagen in Südamerika wie im deutschsprachigen Raum bis in die 1940er-Jahre, allerdings zunehmend ohne Urheberschaftsvermerk.
Der offiziellen Serie gab Lehmann-Nitsche noch eine „reservierte Beilage“ von 14 weiteren expliziten Fotopostkarten indigener Männer bei, die sich vordergründig an die Wissenschaft richtete und wegen der „entblössten Körper“ nicht an das breite Publikum verkauft werden könne. Darunter gesondert abgebildet findet sich auch Millet, wiederum zum Schlangenbeschwörer stilisiert, diesmal jedoch in einer das orientalisierende Motiv ausreizenden Pose, samt improvisiertem Turban und herausforderndem Lachen. Es liegt nahe, dass der Anthropologe Lehmann-Nitsche, der unter einem Pseudonym auch erotische Texte zum vermeintlich überbordenden indigenen Sexualleben veröffentlichte, gerade über sein ominöses Supplement zur populären Verbreitung von Guido Boggianis „Sichtbarmachungen“ im Postkartenformat beitrug. Zu den Stereotypisierungen von kolonialer Wissenschaft und argentinischer Nationenbildung gesellt sich hier ein Voyeurismus, der seinerseits die nomadisierenden Gruppen des Gran Chacos in einer provokativen und zu brechenden „Wildheit“ inszeniert.
Katarina Matiasek, 9. September 2021
Weiterführende Literatur
Robert Lehmann-Nitsche (Hg.), Die Sammlung Boggiani von Indianertypen aus dem centralen Südamerika / La Colección Boggiani de tipos indigenas de Suedamerica central [nebst Supplement], Buenos Aires: Rosauer 1904.
Carlos Masotta, „El atlas invisible. Historias de archivo en torno a la muestra ‚Almas Robadas – Postales de Indios (Buenos Aires, 2010)‘“, in: Corpus. Archivos virtuales de la alteridad americana, 1. Jg. (2011), Nr. 1; DOI: 10.4000/corpusarchivos.963
Hinnerk Onken, „Frühe Bildpostkarten aus Südamerika im Deutschen Reich“, in: Irene Ziehe, Ulrich Hägele (Hg.), Gedruckte Fotografie. Abbildung, Objekt und mediales Format, Münster: Waxmann 2015, S. 194–215.
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