Eine Momentfotografie im Kleid eines Genrebildes
Seit den 1880er Jahren nehmen Versuche um fotografische Momentaufnahmen an Fahrt auf. Ein Pionier in diesem Bereich ist Ottomar Anschütz, auf den entscheidende Fortschritte in der Fototechnik zurückgehen, beispielsweise die Konstruktion eines Schlitzverschlusses, durch den eine beträchtliche Reduktion der Belichtungszeit erreicht werden konnte. Neben Aufnahmen von Menschen in Bewegung widmet er sich intensiv der Tierfotografie. Ende 1884 präsentiert er erstmals eine umfangreiche Serie von Storchenaufnahmen der Öffentlichkeit. Mit Hilfe einer auf Höhe eines Nestes in einer gut getarnten Laubhütte positionierten Kamera ist es ihm mit viel Geduld gelungen, Aufnahmen eines Storchenpaares bei der Brutpflege anzufertigen. Die detailreichen Fotografien aus relativer Nähe halten auf damals spektakuläre Weise insbesondere verschiedene Momente des Fluges dieser Tiere fest.
Von Beginn an erreichen diese Bilder enorme Aufmerksamkeit. Sie werden vor allem als revolutionäre Ergebnisse auf dem Gebiet der Momentfotografie wahrgenommen. Besonders große Reichweite erhält der umfassende und mit vielen Abbildungen ausgestattete Beitrag „Die Momentphotographie im Dienste naturwissenschaftlicher Forschungen“ von Karl Müllenhoff, der im Dezember 1885 in Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte erscheint und in großen Teilen auch vom österreichischen Fotochemiker Josef Maria Eder in seiner Publikation Anleitung zur Herstellung von Moment-Photographien von 1886 übernommen wird. Müllenhoff bespricht einzelne Fotografien in Hinblick auf die Flugbewegungen des Storches, streicht aber auch die emotionale Nähe des Menschen zu diesem Tier hervor, das oft in unmittelbarer Nachbarschaft auf Häuserdächern sein Nest errichtet und in Fabeln sowie Mythen insbesondere als Babylieferant eine große Rolle spielt.
Mehr als zehn Jahre nach der Entstehung dieser Aufnahmen verwendet Ottomar Anschütz eine Auswahl von je zwölf Motiven, um diese in Form von zwei Postkartenserien im Lichtdruck zu verlegen. Beide Serien sind signiert, weisen das Motiv mit einer Seriennummer aus und tragen die Beschriftung „Momentaufnahme von Ottomar Anschütz, Berlin W., Leipzigerstr. 116, Kaufhaus für Amateurphotographie“. Sie müssen daher ab 1896, dem Jahr der Eröffnung dieser Geschäftsräume, verlegt worden sein. Während die erste Serie die Sujets bildfüllend vervielfältigt, wird in der zweiten Serie das Sujet nun vignettiert wiedergegeben, sodass auf der rechten Seite Weißraum für die schriftliche Nachricht bleibt. Zudem findet eine Erweiterung um einen Serien- und Bildtitel statt. Jede Karte trägt die Beschriftung „Storchidylle in 12 Bildern“ sowie eine Legende, die konkret auf das Motiv Bezug nimmt; im vorliegenden Fall lautet der Text Verspätete Heimkehr.
Die der Postkarte zugefügte Beschriftung verändert das Motiv in doppelter Hinsicht: Zum einen weist der Serientitel darauf hin, dass die Karte Teil einer Serie von insgesamt zwölf Motiven ist. Es handelt sich hier um einen indirekten Verweis auf den Kontext der Momentfotografie, die sich gerade bei Ottomar Anschütz oft durch Reihenaufnahmen und nicht durch Einzelbilder vermittelt. Zum anderen arbeitet der Bildtitel gegen den ursprünglichen wissenschaftlichen Entstehungskontext, indem er die dargestellte Szene anthropomorphisiert und damit in ein Genrebild verwandelt. Der Anflug des Nestes von einem Storch wird, unterstrichen durch einen grafisch hinzugefügten Mond, in einen drohenden Ehestreit umgedeutet und bildet so für die Kartenschreiber:innen eine potenzielle Blaupause für eine Übertragung auf das menschliche Leben. Schon Müllenhoff erwähnte in seinem Artikel neben dem naturwissenschaftlichen Wert der Storchenfotografien ihre Funktion als „Genrebildchen“, die „auf dem Tische kunstliebender Familien nicht fehlen [sollten]“. Die Postkarte, für die naturwissenschaftliche Darstellungen lediglich als Randnotiz eine Rolle spielen, schreibt schließlich die von Beginn an inhärente Rahmung der Storchenaufnahmen als Genrebilder, entsprechend der Vorliebe des Mediums für diese Gattung, in der allgemeinen Wahrnehmung fest.
Christina Natlacen, 31. Oktober 2023
Ich bedanke mich sehr herzlich bei Peter Weiss, der die besprochene Postkarte zur Verfügung gestellt und wertvolle Anregungen gegeben hat.
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