Anonym, Echtfotopostkarte mit junger Frau und einem Fotoalbum, um 1917, Silbergelatinepapier, ungelaufen; Privatsammlung

Anonym, Echtfotopostkarte mit junger Frau und einem Fotoalbum, um 1917, Silbergelatinepapier, ungelaufen; Privatsammlung

Eine mehrdeutige Inszenierung

Den Mittelpunkt dieser im Atelier aufgenommenen Echtfotopostkarte stellt eine junge, elegant gekleidete Frau dar, die den Betrachter*innen direkt in die Augen blickt. Sie steht aufrecht vor einem weißen Jugendstiltischchen. Es dient als Ablage für ein Fotoalbum, das die Frau – so suggeriert es die Inszenierung – gerade im Begriff ist durchzublättern. Auf den ersten Blick erinnert das Motiv an die zahlreichen Studioporträts, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vornehmlich im Visit- und Kabinettformat für private Kund*innen hergestellt wurden. Man begab sich dazu in seinem Sonntagsstaat in das Atelier eines Berufsfotografen oder einer Berufsfotografin und fand sich dort inmitten der vorhandenen Requisiten wieder. Üblicherweise wurden diese Porträtfotos auf einen Untersatzkarton kaschiert. Ab den 1890er-Jahren konnten alternativ dazu die Aufnahmen auf Postkartenpapier ausgearbeitet werden. Die Hauptblüte des Postkartenporträts datiert Elizabeth Edwards in einem Aufsatz, der in der Publikation We are the People. Postcards from the Collection of Tom Phillips (London 2004) enthalten ist, auf die Jahre von circa 1900 bis 1918. Dies stimmt mit der auf der Rückseite handschriftlich angebrachten Datierung zeitlich überein, die – nach einer Korrektur um ein Jahr nach vorne – den 16. Juni 1917 angibt. Die Karte zeichnet sich durch einen Büttenrand aus – ein seltenes Beispiel vor 1930. Der unregelmäßige Beschnitt, der ein handgeschöpftes Papier evozieren soll, dient dazu, die Echtfotopostkarte aufzuwerten und in gewissem Sinn als Bildwerk zu nobilitieren.

Aber handelt es sich bei dieser Fotografie wirklich um ein individuelles Porträt, das zum Zweck einer persönlichen Selbstrepräsentation angefertigt wurde? Tatsächlich gibt es ein Bildelement, das Fragen nach der Zulässigkeit noch anderer Funktionsweisen dieser Karte aufwirft: nämlich das abgebildete Fotoalbum auf dem Beistelltischchen. Eine vergrößerte Ansicht offenbart, dass es sich bei den porträtierten Personen um Männer in Uniform handelt. Die besser sichtbare rechte Kabinettkarte mit ihrem ovalen Ausschnitt zeigt etwa einen sitzenden Soldaten ganz im Stil jener Aufnahmen, die Männer vor dem Einzug in den Krieg für ihre Angehörigen anfertigen ließen. Hier fungiert das Bildnis als physisches Erinnerungsbild, das insbesondere den Ehefrauen und Geliebten als emotional aufgeladenes Ersatzobjekt in Zeiten der Ungewissheit und Trennung dienen soll. Man erinnere sich an die Töpfertochter Dibutade, die im Zentrum eines der ältesten Mythen der Porträtdarstellung steht. Sie zeichnet am Vorabend des Krieges die Konturlinien des Gesichts ihres Geliebten, die durch den Schatten einer Kerze auf eine vertikale Mauerfläche projiziert werden, mit Hilfe eines Stiftes nach und generiert aus diesem indexikalischen Bildverhältnis ein, wie es Victor I. Stoichita in seinem Buch Eine kurze Geschichte des Schattens (München 1999) herausarbeitet, Abbild, das sich nicht nur durch eine Ähnlichkeits-, sondern auch durch eine Kontaktbeziehung charakterisiert.

Aber ist es wirklich so, dass die abwesenden Soldaten, deren Porträts in das hochformatige Album geklebt wurden, abwesende Familienmitglieder sind? Dann hätte die junge Frau ihr eigenes privates Album mit zum Fotografen bringen müssen. Oder handelt es sich einfach um ein im Atelier aufliegendes Album, das der Kundschaft einen Überblick über das angebotene Bildrepertoire bieten soll und das hier als ein Requisit neben anderen seinen Weg aufs Bild gefunden hat? Es ist aber auch denkbar, dass es sich um eine Inszenierung handelt, die aus den Geschäftsinteressen des Fotografen entsprungen ist; man denke etwa an Werbepostkarten für Fotostudios. In diesem Fall hätte sich die junge Frau als Modell dem Fotografen zur Verfügung gestellt. Geht man noch einen Schritt weiter, so wäre eine weitere Möglichkeit, dass es sich um ein Verlagsprodukt handelt. Der Erste Weltkrieg brachte eine Vielzahl an Liebesmotiven hervor, die – auf meist kitschig anmutende Art – die räumliche Distanz zwischen den Soldaten im Feld und den Frauen zu Hause im Bildraum zu überwinden suchten. Ein weiteres Bildelement stützte diese Interpretation, und zwar der Ablagetisch mit seinem frontal zur Kamera platzierten stilisierten Lorbeerkranz, ein Dekorationselement, das seit der Antike siegreichen Herrschern und patriotischen Soldaten zur Seite gestellt wird. Ihm ist somit eine Rolle als Symbol, das auf den Krieg referiert, eingeschrieben.

Leider weist die Karte keine eindeutigen Hinweise auf eine der möglichen Funktionen auf. So fehlt etwa der Name des Urhebers, der jedoch für ein Werbeprodukt unerlässlich ist. Als einzige der Karte original eingeschriebene Beschriftung findet sich auf der Rückseite unterhalb der Adresszeilen der Aufdruck „Neptun 4140“, der möglicherweise ein Indiz für eine Verlagsserie darstellt, aber vermutlich eher den Papierhersteller bezeichnet. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es dann doch die handschriftliche Datierung, die am verlässlichsten Aufschluss gibt: Sie bezeichnet den konkreten Tag, an dem diese Aufnahme als Privatporträt bei einem Fotografen beziehungsweise einer Fotografin angefertigt wurde.

Christina Natlacen, 15. Dezember 2022



Permalink: https://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/Eine-mehrdeutige-Inszenierung.html

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