„Gottgefällige Betrachtungen“ im Etablissement
Begeistert berichtet die Wiener Allgemeine Zeitung am 20. August 1905, dass Wien kurz vor der Eröffnung einer „erstklassigen Attraktion nach dem glänzenden Vorbild des französischen Geschmacks“ stehe: Das neue Moulin Rouge in der Weihburggasse sei berufen, „das weltbekannte Pariser Genre“ in Wien einzuführen, hätten doch die Betreiber Willi und Colini keine Mühen gescheut, für eine luxuriöse Ausstattung der Räumlichkeiten und „Engagements von allerneuesten Spezialitäten der Künstlerwelt“ zu sorgen. Das neue Vergnügungsetablissement sei schlicht der „Clou der Saison“, befand auch Die Zeit wenige Tage nach der Eröffnung, am 10. September 1905: „Allabendlich treten erstklassige Tanzkunstkräfte in Wiener Walzern, Pariser Tänzen, originelle[n] Cake-Walks usw. auf“. Und schilderte in einem weiteren Bericht am 15. Oktober desselben Jahres, dass hier „so viel Amüsement an Tanz und Musik“ geboten werde, dass die Räumlichkeiten dem Besucheransturm kaum gewachsen wären.
Einen kleinen Eindruck davon, wie dieses erste, bis 1914 existierende Wiener Moulin Rouge aussah, gibt diese mit Ornamenten verzierte Mehrfachbildpostkarte, die 1908 von Wien nach Budapest verschickt wurde. Ganz den damals gängigen Konventionen der Gestaltung von Ansichtskarten größerer Gastronomiebetriebe und Vergnügungseinrichtungen folgend, zeigt sie nicht nur eine Außenansicht und eine Innenansicht des Varietés, sondern auch Porträts der Betreiber, die in gediegener Abendkleidung mit Blume am Revers beziehungsweise Orden posieren – wohl auch, um die Eleganz und Seriosität ihres Unternehmens zu unterstreichen. Die abgebildeten Schaufenster des Etablissements, vor dem drei Männer in Livree posieren, geben mit bildlichen Darstellungen von Tanzenden sowie den Ankündigungen „täglich Doppelkonzert“ und „Grand bal mabille“ (eine Tanzbelustigung nach Pariser Vorbild) Hinweise auf das dort dargebotene Programm. Die Innenansicht zeigt einen Saal mit einem Treppenabgang – das Varieté befand sich offensichtlich im Souterrain – und einer Galerie im Hintergrund sowie Gäste, Bedienstete und Musiker, die für die Fotograf:innen des Ateliers Moderne posierten.
Dass der Besuch eines solchen Varietés – auch wenn die Qualität des Programms, wie das Neue Wiener Journal am 15. August 1906 betonte, „internationalen Ruf“ genoss – einen leicht pikanten Beigeschmack haben oder zu etwas Verruchtem stilisiert werden konnte, zeigt die mit Bleistift verfasste Nachricht auf der Rückseite, die an ein offenbar in Untermiete in Budapest wohnendes „Fräulein Emilie König“ adressiert wurde. „Aus dem Trubel der Welt haben wir uns in diese stille Klause geflüchtet und gedenken unter gottgefälligen Betrachtungen Ihrer“, ist dort zu lesen, und nach einem Schriftwechsel: „Ich bin hier als Elefant und gebe acht auf unseren Bräutigam.“ Ein „stimmt!“ nach einem nochmaligen Schriftwechsel unterstreicht diese Behauptung. Fünf Unterschriften schließen die gemeinschaftlichen Grüße aus dem Moulin Rouge an die Daheimgebliebene ab und bezeugen dadurch, die übliche Form kollektiver Postkartengrüße aufgreifend, das gemeinsame ‚Wir waren hier‘.
Handelte es sich bei dieser Botschaft um die Nachricht einer mutmaßlich männlichen Reisegesellschaft, die den Junggesellenabschied des Bräutigams im Varieté feierte oder einfach nur so einen Ausflug ins Wiener Nachtleben machte? War den jungen Männern, die die Karte wahrscheinlich direkt im Moulin Rouge erwarben oder geschenkt bekamen, bewusst, dass sie mit dem Versand dieser Karte zugleich deren beabsichtigte Funktion, das Haus zu bewerben, erfüllten? Und was mag sich wohl die mutmaßliche Braut, an die die Nachricht gerichtet war, bei der Lektüre der vielleicht schon in feuchtfröhlicher Stimmung geschriebenen Karte gedacht haben? War diese einfach amüsiert über die Scherze der Freunde ihres Bräutigams und freute sich über den Gruß aus Wien? Oder war sie vielleicht ein wenig verwundert über die indirekte Prahlerei mit dem Besuch in einem Vergnügungsetablissement, über das wohl ein wenig auf Eifersucht spekulierende Spiel mit indirekten Hinweisen auf die Reize des dort Dargebotenen bei gleichzeitiger Rechtfertigung und Entschärfung, dass es in dieser „stillen Klause“ eh „gottgefällig“ zugehe und sich alle Beteiligten gut benahmen? Aber warum brauchte es dann den „Elefant“, der auf den Bräutigam achtgibt? Wovor musste dieser geschützt werden? Vor erotischen Reizen, zu viel Alkohol? Fragen über Fragen, die alle unbeantwortet bleiben müssen. Aber vielleicht ging es insgesamt auch weniger um die Empfängerin der Botschaft als um die Gruppe der Schreibenden selbst, die sich beim gemeinsamen Verfassen der Karte noch einmal als Wir-Gruppe konsolidierte und sich wechselseitig in ihrem Humor und ihrem männlichen Selbstverständnis bestätigen konnte.
Martina Nußbaumer, 5. September 2023
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