Verlag Franz Knollmüller, Graz: „Marburg a. Dr. Franziskanerkirche/Maribor ob Dr., Frančiškanska cerkev“, Kombinationsdruck (?), 1912, gel. 1913 von Maribor nach Graz, Zentralbibliothek Celje; Auszug aus Zensus 1910, Stadtarchiv Graz

Verlag Franz Knollmüller, Graz: „Marburg a. Dr. Franziskanerkirche/Maribor ob Dr., Frančiškanska cerkev“, Kombinationsdruck (?), 1912, gel. 1913 von Maribor nach Graz, Zentralbibliothek Celje; Auszug aus Zensus 1910, Stadtarchiv Graz

Verlag Franz Knollmüller, Graz: „Marburg a. Dr. Franziskanerkirche/Maribor ob Dr., Frančiškanska cerkev“, Kombinationsdruck (?), 1912, gel. 1913 von Maribor nach Graz, Zentralbibliothek Celje; Auszug aus Zensus 1910, Stadtarchiv Graz

Graz, eine mehrsprachige Stadt? – Postkarten als Indizien

Wir befinden uns im Jahr 1913. Eine Agnes Šajher, wohnhaft in Graz, bekommt Post aus Maribor/Marburg an der Drau. Es handelt sich um eine zweisprachig bedruckte Postkarte mit Ansicht der dortigen Franziskanerkirche. „Ančka“, so spricht jemand die in der Grazer Muchargasse wohnhafte Köchin auf Slowenisch an, „auch ich bin noch nicht gesund. Der Arzt hat mir gesagt, dass das lange dauern wird diese Krankheit. Mit Gott!“ Ein Alltagskommunikat, wie es viele dieser Art gab – verschickt von Maribor nach Graz.

Was mich an dieser Karte interessiert, ist weder der Ort der Schickung noch die visuelle Repräsentation oder die Produktionsverhältnisse, die zu ihrer Erzeugung führten, sondern etwas anderes: Mich interessiert, was eine solche, auf Slowenisch nach Graz adressierte Karte über den – bis heute verdrängten – slowenischen Anteil an der Grazer Stadtbevölkerung zur Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie erzählen kann. Denn Graz ist zu diesem Zeitpunkt Hauptstadt eines zweisprachigen Kronlandes; die Steiermark reicht bis weit ins heutige Slowenien und zählt insgesamt ein Drittel slowenischsprachiger Einwohner*innen.

Und auch Graz weist zu diesem Zeitpunkt einen erheblichen slowenischen Bevölkerungsanteil auf, genährt durch kontinuierliche Bildungs- und Arbeitsmigration aus dem Süden des Kronlands. Dieser Anteil geht allerdings schon in den zeitgenössischen Länderkunden und Fremdenverkehrsbroschüren völlig unter. Die Inszenierung der Hauptstadt als ‚deutsch‘ ist den nationalistischen Agitatoren, die um 1900 auch bereits den Grazer Gemeinderat dominierten, vordringliches Anliegen. Ein „Bollwerk“ gegen das Slawentum sei Graz, heißt es gebetsmühlenartig auch von Bürgermeister Ferdinand Portugall. Er setzte alles daran, den öffentlichen Raum der Hauptstadt von Zeichen des Slowenischen freizuhalten. Die Ergebnisse des Zensus, der alle zehn Jahre stattfindenden Volkszählungen innerhalb der Habsburgermonarchie, scheinen ihm recht zu geben. Nicht mehr als etwa 1 Prozent der Grazerinnen und Grazer gaben als ihre Umgangssprache jeweils Slowenisch an. Schätzungen nennen allerdings andere Zahlen: Zwischen einem Neuntel und einem Siebentel pendeln die Angaben zeitgenössischer Statistiker.

Wie kommt es zu dieser auffälligen Diskrepanz? Warum ist der Anteil des Slowenischen in den offiziellen Zahlen so verschwindend gering? Und wie lassen sich überhaupt Spuren dieses ‚slowenischen Graz‘, das es zweifellos gab, freilegen? Eine Möglichkeit, Indizien für die einstige Anwesenheit slowenischsprachiger Menschen in Graz zu sammeln, sind Postkarten wie diejenige an Agnes Šajher. Postkarten zeigen uns nicht nur konkrete Sprachpraktiken, sondern liefern auch eine Fülle weiterer Informationen: Wer schrieb da an wen? Welcher Art sind die – oft verwandtschaftlichen – Beziehungen zwischen Hauptstadt und Untersteiermark/Spodnja Štajerska? Was lässt sich über sozialen Status und berufliche Orientierung herausfinden? Neben der Köchin Agnes/Ančka begegnen uns Kleingewerbetreibende und Geschäftsinhaber, Schülerinnen und Studierende, Gärtner und Geistliche. Über Postkarten lassen sich so Splitter slowenischsprachiger Biografien in Graz sammeln, die die offiziellen Zahlen produktiv irritieren.

Noch interessanter wird die Indiziensuche, wenn man die Adressaten der Postkarten im Zensus sucht und die Angaben vergleicht. Wie ist jemand wie Agnes Šajher sprachlich deklariert worden? Wer findet sich unter der Adresse „Muchargasse 34“, an die diese Postkarte verschickt wurde? In der Tat ist im Zensus für diese Adresse eine „Agnes Scheucher“ verzeichnet, die im Haushalt einer älteren, von Wien zugereisten Dame als Köchin tätig ist. Ihr Geburtsdatum wird mit 1860 angegeben, ihr Geburtsort als Luttenberg/Ljutomer, ein Marktflecken in der überwiegend slowenischsprachigen Untersteiermark/Spodnja Štajerska. Als Umgangssprache ist aber nicht das Slowenische, sondern das Deutsche angegeben, ebenso wie die Schreibung ihres Namens bereits germanisiert ist. Wären wir nicht auf die an sie adressierte Postkarte gestoßen, jeder Hinweis auf ihre mehrsprachige Existenz wäre getilgt.

Doch warum hat Agnes Šajher / Agnes Scheucher das Deutsche und nicht das Slowenische als ihre Umgangssprache deklariert? Diese Frage ist komplex; eine mögliche Antwort kann nur in Annäherungen versucht werden. Zunächst einmal gilt es, die tiefe soziale Marginalisierung zu verstehen, die Slowenischsprachige im Graz der Jahrhundertwende erlebten. Als ‚windisch‘ abgewertet und zudem eher der Unterschicht zugeordnet, dürften sich viele von ihnen lieber als ‚deutsch‘ deklariert haben – denn in der Regel waren sie ohnehin perfekt zweisprachig. Ein Beherrschen beider Sprachen konnte im Zensus aber nicht angegeben werden – man musste sich also entscheiden. Die Formulare wurden zudem nicht anonym ausgefüllt. Es kamen sogenannte „Volkszählungskommissäre“ in die Häuser. Sie sprachen oft gar nicht mit allen Parteien, sondern nur mit dem ‚Haushaltsvorstand‘ und füllten das Formular nach dessen mündlichen Angaben aus. Dabei entstand breiter Raum für Manipulation. Viele Personen, die slowenisch sprachen, dürften im Zensus als deutsch geführt worden sein. Nicht nur slowenisches Dienstpersonal, sondern auch Kinder von slowenischen Zuwanderern, die eine deutsche Schule besuchten, und auch solche Slowenischsprachige, die ein öffentliches Amt bekleideten, wurden in der Regel als deutschsprachig geführt.

Agnes Šajher ist also ein ‚typischer Fall‘. Ob die 53-Jährige nach Ende ihres Dienstbotendaseins wohl ins untersteirische Ljutomer zurückgekehrt ist, das einige Jahre später nicht mehr der Habsburgermonarchie, sondern dem neuen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Staat) angehören sollte? Ob sie dort wieder eine ‚slowenische‘ Identität angenommen hat? Wir wissen es nicht. Sie hat aber eine Spur hinterlassen, an der sich über die – problematische, weitgehend vergessene – Geschichte der mehrsprachigen Steiermark und ihrer mehrsprachigen Bewohner*innen nachdenken lässt.

Eva Tropper, 8. Juli 2020

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Transkription des Mitteilungstextes der Postkarte:
An Fraulein Agnes Šajher
Köhin bei die Fr. Ema Arson
Muhargasse No 34 / 1 štok
in Graz
Najprisrčnejše pozdrave Vam pošiljam od Matere mi lastne z Maribora. Prosim izročite pozdrave tudi Gospodični in jim rečte da je že Franček domu prišel. Na svidenje. Ančka tudi zdrava še nisem. Zdravnik mi je rekel, da bo to dolgo trajala ta bolezem. Z Bogom

[Bildseite:] Srčne pozdrave T. Rajter
Pauline Balzer

Übersetzung des Mitteilungstextes der Postkarte:
Allerherzlichste Grüße schicke ich Ihnen von meiner eigenen Mutter aus Maribor. Bitte richtet auch Grüße dem Fräulein aus und sagt ihr dass der Franček schon nach Hause gekommen ist. Auf Wiedersehen. Ančka auch ich bin noch nicht gesund. Der Arzt hat mir gesagt, dass das lange dauern wird diese Krankheit. Mit Gott!

[Bildseite:]: Freundliche Grüße T. Rajter
Pauline Balzer

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Zu Postkarten als Quellen für mehrsprachige Regionen siehe die Publikation Bildspuren – Sprachspuren (https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4998-7/bildspuren-sprachspuren); zur Thematik Nation, Sprache und Identitäten auf Postkarten der Untersteiermark (1885–1920) siehe das Forschungsprojekt Postcarding Lower Styria, https://postcarding.uni-graz.at/de, und das daraus hervorgegangene Online-Archiv polos, https://gams.uni-graz.at/context:polos.



Permalink: https://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/Graz-eine-mehrsprachige-stadt-postkarten-als-indizien.html

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