HDH-Verlag, Wien: „Wien – Westbahnhof“ (Verlagsnr. 5138), um 1955, Silbergelatinepapier, gelaufen von Wien nach Seewalchen; Slg. Wienmuseum

HDH-Verlag, Wien: „Wien – Westbahnhof“ (Verlagsnr. 5138), um 1955, Silbergelatinepapier, gelaufen von Wien nach Seewalchen; Slg. Wienmuseum

Großer Bahnhof zwischen Abbild und Sinnbild

Die Ansichtskarte zeigt den 1951 teileröffneten und 1954 fertiggestellten Wiener Westbahnhof bei Abendbeleuchtung. Der neue Verkehrsknotenpunkt wurde nicht nur zu einem Symbol für den Wiederaufbau, sondern – gerade in der Besatzungszeit – auch für die neue Westorientierung des Landes. Ablesbar war diese geopolitische Verschiebung auch an einem anderen Bahnhofsareal: So hieß der neue Südbahnhof, wenige Jahre später eingeweiht, zunächst noch „Süd-Ost-Bahnhof“, weil er ja Süd- und Ostbahn in sich baulich vereinte. Der semantische Bezug zum Osten verschwand jedoch bald, nachdem die Bahnverbindungen nach Osteuropa im Kalten Krieg mehr und mehr an Bedeutung verloren hatten. Der neue Westbahnhof hingegen avancierte zum Vorzeigeprojekt der Republik: „Wien und ganz Oesterreich werden mit Recht auf dieses neue Tor nach dem Westen Europas stolz sein dürfen“, hieß es dazu in einer Tageszeitung (Oberösterreichische Nachrichten, 21. Dez. 1950, S. 3).

Das Gebäude mit seiner markanten Außenfassade und der großzügigen Haupthalle galt nicht nur wegen seiner Ästhetik und Funktionalität als äußerst gelungen. Es fügte sich auch beispielhaft in das Stadtbild ein. Nach dem Umbau und der Erweiterung des Komplexes um 2010 um ein Hotel- und Bürogebäude sowie ein Einkaufszentrum (unter Erhaltung zumindest der historischen Haupthalle des Bahnhofes) blieb von dieser städtebaulichen Qualität nicht mehr viel übrig. Im vorliegenden Bild lässt sie sich wenigstens in Teilen erahnen.

Und damit kehren wir zurück zu unserer Postkarte. Sie demonstriert anschaulich die Ambivalenz des Mediums, das stets Abbild und Sinnbild ist. Ansichtskarten bilden einerseits räumliche Verhältnisse ab und sind zugleich symbolisch aufgeladene Konstrukte. Sie stellen eine spezifische Mischung aus Dokumentation und Interpretation dar, deren Verhältnis je nach Darstellungsweise und Reproduktionsverfahren unterschiedlich ist und dementsprechend beurteilt werden muss. Diese Bilder zeigen somit nicht nur den zeittypischen, tendenziell verklärenden Blick auf die wahrnehmbare Wirklichkeit (in diesem Fall die Stadt), sondern referieren mehr oder weniger auf die physisch-räumliche Realität selbst. Von zahlreichen weniger prominenten Adressen und Gebäuden stehen uns heute praktisch nur illustrierte Postkarten als Bildquelle zur Verfügung. Das macht die Ansichtskarte nicht nur für die Rekonstruktion kollektiver Sehpräferenzen und Symbolpraktiken interessant, sondern ebenso für die quellenkritische Rekonstruktion von Umweltveränderungen.

Konkret heißt das in unserem Fall: Aus der um 1955 entstandenen Fotopostkarte lässt sich einiges über die bauliche Situation des Westbahnhofs in der Entstehungszeit ablesen (sofern man mögliche Retuschen und Montagen berücksichtigt beziehungsweise ausschließen kann). So ist beispielsweise zu erkennen, dass jene große neonbeleuchtete Bahnhofsuhr, die heute die Frontseite der Kassenhalle ziert, ursprünglich seitlich am Gebäude angebracht war. Die „Echte Photographie“ wurde vom Wiener HDH-Verlag hergestellt, betrieben seit den 1930er Jahren von Hanns Hubmann.[1]

Gleichzeitig setzt die Karte den neuen Bahnhof bildlich effektvoll und überhöht in Szene: Denn tatsächlich erhellten die Bahnhofshalle und der beleuchtete Vorplatz den Stadtraum auf neue Weise und verliehen dem Ort, auch in der zeitgenössischen Wahrnehmung, eine großstädtische Note. Im Bild erfuhren diese Lichteffekte vermutlich noch eine Verstärkung. Zudem rückte man durch den gewählten Bildausschnitt und die Perspektive ein weiteres Fortschrittssymbol der Zeit in den Vordergrund: das Automobil. Es tritt gewissermaßen in ikonische Konkurrenz zum neuen Bahnhof – oder komplementiert ihn, je nach Lesart. Aus heutiger Sicht mag das betonte bildliche Nebeneinander der beiden Verkehrsmittel, Bahn und PKW, paradox erscheinen (denn mittlerweile werden Autos eher aus den Ansichtskartenbildern entfernt). Doch die Massenmotorisierung der sogenannten Wirtschaftswunderzeit stand damals erst am Anfang, Staatsgäste und Stars kamen bis in die 1960er Jahre regelmäßig auch am Westbahnhof an. Der erweiterte neue Flughafen Wien-Schwechat wurde erst 1960 eröffnet. So gesehen ist diese Ansichtskarte nicht nur ein symbolisches Dokument der Nachkriegsmoderne, sondern lässt sich auch als Ausdruck einer verkehrshistorischen Übergangszeit interpretieren.

Sándor Békési, 1. Mai 2023

[1] Ich danke Helfried Seemann für diese Information.

Das Wien Museum zeigt von 4. Mai bis 24. September 2023 die Ausstellung Großstadt im Kleinformat. Die Wiener Ansichtskarte.



Permalink: https://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/Grosser-bahnhof-zwischen-abbild-und-sinnbild.html

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