Grüße aus einem untergegangenen Staat
Als ich Anfang dieses Jahres in Leipzig nach Postkarten in einem Geschäft unter den Arkaden des Alten Rathauses suchte, wurde ich stutzig: Auf demselben Ständer befanden sich Karten mit Stadtansichten, die rund vierzig Jahre voneinander trennten. Zwischen aktuelle Fotografien der Stadt Leipzig mischten sich Farbaufnahmen, die noch aus der Zeit der DDR stammen. Sie zeichnen sich im Vergleich zur heutigen Postkartenproduktion durch einen etwas dünneren Karton und eine weniger glänzende Oberfläche aus. Es handelte sich dabei nicht um antiquarische Sammlerstücke, sondern um Postkarten, die nach Käufer:innen suchen, die sie verschicken. Der Fall ist insofern kurios, als die dargebotenen Karten nicht nur veraltete Darstellungen einer inzwischen umfassend modernisierten Stadt zeigen, sondern vielmehr das Selbstbild eines nicht mehr existierenden Staates repräsentieren.
Unübersehbar im Zentrum der hier ausgewählten und rückseitig mit „Messestadt Leipzig“ betitelten Ansicht steht das Alte Rathaus am Markt. Es wird zu einem beträchtlichen Teil vom Messehaus verdeckt, das 1961 bis 1963 auf dem Grundriss des zerbombten Vorgängerbaus errichtet wurde und repräsentatives Aushängeschild für das Messegeschehen der Stadt war. Dort fand beispielsweise die jährliche Leipziger Buchmesse statt. Auf der Fassade sichtbar ist das für Leipzig charakteristische Doppel-M, ein bereits 1917 entworfenes Logo, das sich vom Begriff „Mustermesse“ ableitet. Zusätzlich wird auf gelben Bannern in zwei Fensterbrüstungen für die jeweils im Herbst gezeigte „Interscola“, eine Messe für Unterrichtsmittel und Schulausrüstungen, geworben. Die üppig bepflanzten Blumenbeete sowie die Neugestaltung des öffentlichen Raums als Fußgängerzone ab 1973 samt eines Prestige-Beleuchtungskonzepts mit modernen Kugellampen hatten den Zweck, die Messebesucher:innen mit weltläufigem Flair willkommen zu heißen.
Auf der Textseite wird ersichtlich, dass die Aufnahme von einem heute nicht näher zu identifizierenden Fotografen namens Wolf für den Verlag Bild und Heimat angefertigt wurde. Bild und Heimat war in Reichenbach im Vogtland ansässig und besaß ein Quasi-Monopol auf die Postkartenproduktion der DDR, er produzierte rund 90 Prozent aller Karten. Er war der SED-Verlagsholding Zentrag (Zentrale Druckerei-, Einkaufs- und Revisionsgesellschaft mbH) unterstellt. Waren es zunächst vorwiegend Echt-Foto-Postkarten in Schwarz-Weiß, wurden diese schließlich um gedruckte Ansichtskarten in Farbe erweitert. Dadurch ließ sich die Auflage beträchtlich steigern; für das Jahr 1983 ist die Produktion von 140 Millionen Stück überliefert. Neben der Beschriftung der Karte in drei Fremdsprachen – an erster Stelle in Russisch, der Sprache des „Bruderlandes“ – fallen die Seriennummer, eine fixe Preisangabe von 1,20 DDR-Mark sowie Buchstaben-Zahlen-Kombinationen auf, bei denen es sich um gängige Druckvermerke handelt. Diese dienten der Identifizierung der Herkunft der Karte und gaben Aufschluss über die erfolgreiche Freigabe eines Motivs, für die der Rat der Stadt zuständig war. Die Angabe „III/26/13“ verweist beispielweise auf den VEB [Volkseigenen Betrieb] Druckwerke Reichenbach im Vogtland und die letzte Ziffernkombination des folgenden Blocks auf das Jahr der Druckgenehmigung, nämlich 1986.
Die Tatsache, dass sich Karten aus der DDR noch immer im Umlauf befinden, sagt zuvorderst viel über die Postkartenindustrie aus. Der Verlag Bild und Heimat produzierte in enorm hohen Auflagenzahlen auf Vorrat, hatte er doch keine Konkurrenz zu fürchten. Dass die Motive ein zeitliches Ablaufdatum haben könnten, blieb unberücksichtigt. Man versuchte zwar, sämtliche gegenwärtige Elemente möglichst in den Hintergrund zu rücken, dennoch ließ sich kaum vermeiden, dass sich in der architektonischen Gestaltung von Gebäuden und des öffentlichen Raums viel Zeittypisches einlagerte. Diese Ansichtskarten haben gleich einer Zeitkapsel die politischen Umwälzungen sowie die turbulente Geschichte des Verlags, der nach der Wende mehrfach übernommen wurde, überdauert und führen als anachronistische Restbestände ein sonderbares Weiterleben in einer Welt, die mit der abgebildeten nichts gemeinsam hat.
Christina Natlacen, 21. Juni 2024
Wesentliche Informationen zur Klassifizierung und Datierung der vorliegenden Karte verdanke ich der Sammlung von Postkarten des Verlags Bild und Heimat auf den Webseiten https://colnect.com und https://www.ddr-postkarten-museum.de, dessen Betreiber Jürgen Hartwig zudem über Vermittlung von Arne Reimer mit zahlreichen wertvollen Hinweisen den Text bereicherte. Ihm sowie Rainer Barth, der mich bei Datierungsfragen der Lampenneugestaltung des Leipziger Markts unterstützte, gebührt mein herzlicher Dank.
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