Abb. 1: Dominik Stahala, Akt, um 1900, Silbergelatine, Slg. Michael Ponstingl; Abb. 2 u. 3: „Universal-Balcon“, aus: Bernhard Wachtl, Fabrik und Lager sämmtlicher Bedarfsartikel für Photographie und verwandte Fächer, Wien 1887, Albertina, Bibliothek

Abb. 1: Dominik Stahala, Akt, um 1900, Silbergelatine, Slg. Michael Ponstingl; Abb. 2 u. 3: „Universal-Balcon“, aus: Bernhard Wachtl, Fabrik und Lager sämmtlicher Bedarfsartikel für Photographie und verwandte Fächer, Wien 1887, Albertina, Bibliothek

Abb. 1: Dominik Stahala, Akt, um 1900, Silbergelatine, Slg. Michael Ponstingl; Abb. 2 u. 3: „Universal-Balcon“, aus: Bernhard Wachtl, Fabrik und Lager sämmtlicher Bedarfsartikel für Photographie und verwandte Fächer, Wien 1887, Albertina, Bibliothek

Pappmaché-Kulisse, ‚zweckentfremdet‘

Vorliegende Postkarte des Wiener Fotografen Dominik Stahala (1846–1918) ist eine Zweitverwertung seiner zu Tausenden hergestellten Aktstudien (Abb. 1). Die gängigsten Motive warf er in der zweiten Hälfte der 1890er-Jahre nochmals als Postkarten auf den Markt. Das Modell bewegt sich in einer bemerkenswerten Kulissenlandschaft, die Stahala in gewisser Weise ‚zweckentfremdet‘ gebrauchte. Diese Geschichte sei hier erzählt.

Nachdem im Lauf der 1850er-Jahre die technischen, organisatorischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben waren, entstand eine zu Anfang freilich nur den gehobenen Ständen zugängliche fotografische Porträt,industrie‘. Die gewerblichen Bildgestalter:innen suchten, das individuelle Erscheinungsbild, den sozialen Status oder die Profession ihrer Klientel herauszustreichen, wofür sie auf die Rhetorik des Körpers, der Kleidung, der Accessoires und dekorative Attribute setzten. Die Anleihen reichten vom (barocken) ständischen Repräsentationsporträt bis zum intim-persönlichen Biedermeierbildnis. Die ins Bild gerückten Versatzstücke, heute gern auch Props geheißen, spiegelten in aller Regel eine großbürgerliche Wohn- und Lebenskultur wider. Eine eigene kleine ‚Industrie‘ bediente diesen Bedarf an Distinktionszeichen. Neben Leinwandhintergründen aller Art (von ‚neutralen Fonds‘ über Interieurs, Stadtveduten bis zu Park- und Naturlandschaften [Wald, Meer etc.]) erschuf man eine Warenwelt an Dekorationsgegenständen für alle erdenklichen Situationen im Haus und unter freiem Himmel. Dazu gehörten Möbel, geraffte Vorhänge, Nippes, Fächer, Palmwedel, Buketts, Bücher, Uhren, Teppiche, Polster, Schmuckstücke, Tiere, Fabelwesen, Felsen und architektonische Elemente wie Säulen, Balustraden, Postamente, Portale, Stiegenaufgänge, Geländer. Genau genommen wurden nicht Möbel oder Säulen und so fort produziert, sondern bloß dreidimensionale Zeichen von diesen, bestehend aus billigem Holz, Gips oder Pappmaché. Diese besaßen eine Schauseite und der leichteren Transportfähigkeit wegen oft versenkbare Rollen; manche der Möbel verfügten über einen Anstrich, damit sie im Schwarzweiß des Lichtbilds akzentuierter wirkten. Sie waren, da in Serie hergestellt, billiger als Originale, exklusiv auf optische Wirkung ausgerichtet und erleichterten die Handhabung in der täglichen Atelierarbeit.

Der in Wien ansässige Bernhard Wachtl machte sich im Lauf der 1880er-Jahre einen Namen als Produzent solcher Ausstattungsstücke in der Österreichisch-ungarischen Monarchie. Die meisten Ateliers im Lande bezogen aus seinem fotografischen Bedarfshandel Dekorationsstücke (und viele weitere Utensilien). Sein Programm offerierte er in umfänglichen Verkaufskatalogen, einer davon über 1500 Seiten stark. Obgleich Wachtls Sortiment enorm breit und tief war, besaßen dennoch verschiedene Ateliers zum Teil die gleichen Requisiten. Ein Stück weit lässt sich daraus auch auf ihre Popularität und auf Moden schließen. Da die gewerbliche Porträtproduktion ungeheuren wirtschaftlichen Zwängen unterstand, kamen die erworbenen Props – ein kaufmännisch zwingendes Gebot –wiederholt zum Einsatz. (Interessant wäre zu wissen, was wohl im Gefühlshaushalt der Zeitgenoss:innen vorging, stellten sie fest, man selbst und ein Freund oder die Nachbarin finden sich in derselben Kulisse wieder – vielleicht nicht unähnlich demjenigen Gefühl, das einen gegebenenfalls beschleicht, begegnet man jemandem, der den gleichen Pulli mit demselben auffälligen Muster trägt.)

Bei der Darstellung der Dekorationsstücke (im Reproduktionsverfahren des Holzstichs) in den Wachtl-Katalogen fällt auf, dass diesen immer wieder einmal ein Modell beigegeben ist. So exemplifiziert die Abbildung die prototypische Anwendung, ein respektables Porträt zu fertigen. Zumeist weist der Habitus (Kleidung, Haltung, unterstützt durch das Requisit) die dargestellte Person als Mitglied der bürgerlichen Klasse aus. Manche der Fotograf:innen allerdings gestalteten nicht allein privat beauftragte Porträts, sondern übten sich in anderen Gattungen wie dem Rollenporträt, dem Typenbild, der Genre- und Kostümaufnahme oder der Aktstudie, die sie als Sammelbilder publizierten. Aus pragmatischen und ökonomischen Überlegungen griffen sie hierfür überwiegend auf dieselben Dekorationsstücke zurück. So konnte es durchaus vorkommen, dass in einem Augenblick eine fürnehme Dame auf einem Renaissance-Imitat von Stuhl Platz nahm, auf dem ein andermal eine (mutmaßlich) proletarische Frau sich gezwungen sah, ihre nackte Haut zu Markte zu tragen, um damit ihr karges Auskommen ein klein wenig aufzubessern.

Und Dominik Stahala handhabte das genau so. Dieselben Requisiten verwendete er für seine Privatporträts, seine Schauspieler:innen-Rollenporträts und auch für seine Aktstudien. Die hier diskutierte Postkarte zeigt Wachtls elfteiligen „Universal-Balcon“ (Abb. 2, 3), der sich verschieden aufstellen ließ und satte 75 Gulden kostete. Der Fotograf zeigte jedoch nicht dessen Schauseite: das zweite Postament mit aufgesetzter Säule verschwindet nahezu hinter ersterem, zudem kommen die Balustraden-Brüstung und das geschwungene schmiedeeiserne Geländer, über das ein drapierter Teppich liegt, nicht ins Bild. Diese Kameraeinstellung nahm die Repräsentativität des Ensembles zurück, die beim Porträt zumeist so sehr gewünscht wurde. Die Säule und das vertikale Ornamentfries betonen und wiederholen die Längsachse des Körpers.

Michael Ponstingl, 18. August 2022



Permalink: https://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/Pappmache-Kulisse-zweckentfremdet.html

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