Henry Garner: „Bank Holiday on Hampstead Heath“ („Living Pictures Series“, Nr. 321), zwischen 1904 und 1910, Autotypie, gelaufen von Paddington nach Kentish Town innerhalb Londons (Datum am Poststempel unleserlich), Privatsammlung, Wien

Henry Garner: „Bank Holiday on Hampstead Heath“ („Living Pictures Series“, Nr. 321), zwischen 1904 und 1910, Autotypie, gelaufen von Paddington nach Kentish Town innerhalb Londons (Datum am Poststempel unleserlich), Privatsammlung, Wien

Postkarten mit lokalen Ansichten – ein mit dem frühen Film verwandtes Genre

Zahlreiche Menschen drängen sich im Vordergrund des vorliegenden Postkartenmotivs, das auf eine im einstmaligen Londoner Bezirk Hampstead aufgenommene Fotografie zurückgeht: Während auf der linken Bildhälfte drei junge Frauen, die sich gegenseitig unterhaken und dynamisch in Richtung Kamera marschieren, ins Auge springen, zeichnet sich die Menge rechts davon vorrangig dadurch aus, dass sie sich dem Geschehen auf der Straße mit den drei gutgelaunten Frauen (die Verfasserin der Karte beschreibt sie als „rather jolly“) zuwendet. Die Aufnahme entstand, wie es auch der Titel auf der Vorderseite ausweist, an einem jener Feiertage, an denen auf der Grünfläche Hampstead Heath im Nordwesten der britischen Hauptstadt ein beliebter Jahrmarkt stattfand. Traditionell war dies zu Pfingsten und am ersten Montag im August der Fall. Seit der Überantwortung des Hampstead Heath an die Öffentlichkeit im Jahr 1871 erlebten die dort angesiedelten Jahrmärkte große Popularität. Von den Fahrgeschäften und Attraktionen ist auf der Karte mit Ausnahme einer Imbissbude nichts zu sehen, dafür stehen die Besucher:innen des Volksfestes im Mittelpunkt.

Ungewöhnlich erscheinen die Momenthaftigkeit und Unmittelbarkeit der Szene: Als Betrachter:in erlangt man den Eindruck, dass sich der Fotograf oder die Fotografin mitten ins Getümmel gestellt hat und bewusst als Teil des Spektakels wahrgenommen werden wollte – die Blicke, die sich direkt auf ihn beziehungsweise sie richten, zeugen davon. Die Karte ist, wie es der Aufdruck auf der Adressseite bezeugt, Teil der „Living Picture Series“ von Henry Garner, der mit den Initialen „H. G. L.“ ausgewiesen wird und zuerst in Leicester, später auch in London Postkarten herstellte. Bevor Garner 1904 diese Serie begründete, sind bereits ab 1903 Postkarten mit lokalen Ansichten entstanden. Eine exakte Datierung dieser Karte ist aufgrund des unleserlichen Poststempels leider nicht möglich, jedoch lässt sich anhand der Briefmarke, die König Edward VII. zeigt, der Entstehungszeitraum auf die Jahre zwischen 1904 und 1910 einschränken.

Der Serientitel „Living Pictures“ sowie der auch geläufige englische Begriff der „local view cards“ lassen an den frühen Film denken, der seine Bewegtbilder als „lebende Bilder“ anpries und mit dem sogenannten Lokalfilm (auch als Lokalansichten bekannt) ein eigenes Genre ausbildete, das frappierende Ähnlichkeiten mit der vorliegenden Postkarte aufweist. Lokalfilme stellten aufgrund ihres schlechten Erhaltungszustandes einen für lange Zeit vergessenen Bereich des frühen Films dar, der sich dadurch charakterisierte, dass lokal tätige Operateure zu verschiedenen Anlässen wie religiösen Umzügen oder Volksfesten die lokale Bevölkerung aufzeichneten und diese Filme zeitnah vor Ort präsentierten. Damit war der vorrangige Zweck dieser Aufnahmen, möglichst viele Anwesende abzubilden, für die es eine seltene Attraktion war, gefilmt zu werden, und die daher auch zum vorrangigen Publikum für die Filmvorführung zählten. Lokalfilme zeichneten sich ästhetisch dadurch aus, dass viele Personen mit dem Operateur hinter der Kamera interagierten, indem sie mit diesem in direktem Blickkontakt standen und auch mitunter durch Winken oder Ziehen des Hutes auf sich aufmerksam zu machen suchten. Damit erhöhten sie ihren Wiedererkennungswert inmitten der Menschenmenge.

Die Ansicht „Bank Holiday on Hampstead Heath“ weist auf mehreren Ebenen auffallende Parallelen zum Genre des Lokalfilms auf: erstens motivisch in der Wahl eines populären lokalen Ereignisses, zweitens ästhetisch hinsichtlich der Platzierung der Kamera inmitten der Menschenmenge und der offensichtlichen Interaktion durch Blicke, drittens technisch als kostengünstiges Verfahren, ablesbar an der Autotypie als Druckverfahren und dem relativ dünnen Papier, und schließlich viertens in Bezug auf den Adressat:innenkreis, wird doch als Empfängerin eine Frau in Kentish Town angegeben, einem Stadtteil in direkter Nachbarschaft zum Hampstead Heath. Aus dem handschriftlichen Text geht hervor, dass ihr die Karte als Geschenk für ihre Sammlung zugesandt wird. Karten mit lokalen Ansichten dieser Art wurden bislang meines Wissens nach nicht als eigenes Genre innerhalb der Postkartenforschung identifiziert. Gemeinhin versteht man unter lokalen Aufnahmen topografische Motive von Straßen und Plätzen an Orten, die nicht primär touristisch, sondern als Wohn- und Arbeitsbezirke genutzt wurden. Darüber hinaus existieren jedoch einzelne Aufnahmen wie diese hier im Fokus stehende, deren Parallelen zu den lokalen Filmen so augenfällig sind, dass von einem Verwandtschaftsverhältnis zwischen diesen beiden Medien im Sinne einer gegenseitigen Beeinflussung auszugehen ist.

Christina Natlacen, 20. Jänner 2025


Literatur
Angaben zum Postkartenhersteller Henry Garner finden sich auf folgendem Online-Blog, der sich genealogischen Forschungen in Hertfordshire widmet: http://www.hertfordshire-genealogy.co.uk/data/projects/FS/Publishers/Garner.htm. Wesentliche Beiträge zum Lokalfilm haben in der deutschsprachigen Forschung Martin Loiperdinger und Uli Jung geleistet.



Permalink: https://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/Postkarten-mit-lokalen-Ansichten-ein-mit-dem-fr%C3%BChen-Film-verwandtes-Genre.html

Zurück