R. S. W. I [R. Sch., Wien, 1. Bezirk] (Verlag): „Groß-Enzersdorf. Promenade mit Stadtmauer“ (Nr. 4), 1920er-Jahre, Kupfertiefdruck, ungelaufen, NÖ Landesbibliothek/Topographische Sammlung

R. S. W. I [R. Sch., Wien, 1. Bezirk] (Verlag): „Groß-Enzersdorf. Promenade mit Stadtmauer“ (Nr. 4), 1920er-Jahre, Kupfertiefdruck, ungelaufen, NÖ Landesbibliothek/Topographische Sammlung

Promenade an der Mauer oder: Nobilitierung eines Bildmotivs

Auf den ersten Blick scheint es sich um ein wenig spektakuläres Motiv zu handeln: Einige Personen spazieren durch eine Allee, welche sich parallel zu einer historischen Stadtbefestigung durch die Landschaft schlängelt – eine Allee, welche nur durch einen Graben von besagter Ummauerung getrennt ist. Und doch sagt diese Motivwahl einiges über den Umgang mit historischer Bausubstanz einerseits und mit der „Peripherie“ mittelalterlicher Zentralorte andererseits aus. Die einst „extra muros“ befindlichen Teile einer Stadt, oft in sumpfigem, schwer zugänglichem und im Kriegsfall gefährdetem Gelände gelegen, waren in der Vormoderne eher für karitative Institutionen wie Bürgerspitäler und Klöster – etwa der Kapuziner – oder für Mühlen und andere Wirtschaftsbetriebe geeignet; zu den attraktiven und somit abbildungswürdigen Teilen einer solchen Stadt zählten sie jedenfalls nicht.

Im 18. und 19. Jahrhundert, als Befestigungen, auch vormals stattliche wie diejenige von Groß-Enzersdorf, längst veraltet und somit funktionslos waren, geschah ein Wandel im Umgang mit solchen Bauten. Einerseits pflegte man einen gewissen Stolz auf Zeugen vermeintlicher (oder realer) Größe eines Gemeinwesens; andererseits standen vor allem Torbauten dem anwachsenden Verkehr im Weg und wurden vielfach abgerissen. Das in jener Zeit anwachsende Interesse an der Epoche des Mittelalters bildete einen gewissen Widerspruch zu jener Haltung, die heute als unschätzbar geltende Architekturen bedenkenlos einer eigentümlichen Auffassung von Modernität zum Opfer fallen ließ. Auf der anderen Seite existierte noch lange kein institutionalisierter Denkmalschutz, was zusätzlich erklärt, weshalb manche Teile von Stadtbefestigungen bedenkenlos den Spitzhacken anheimfielen.

Zugleich nahm man eine sympathisch und fast schon modern erscheinende Aneignung von Stadtbefestigungen oder wenigstens Teilen derselben vor, indem man entlang so manchen „Glacis“ Bäume pflanzte, Spazierwege anlegte und das betreffende Gelände gleichsam für prototouristische Zwecke nutzbar machte. Das Flanieren im Schatten historischer Stadtmauern sorgte nicht nur für eine Aufwertung der Bedeutung solcher Befestigungen für den betreffenden Ort, sondern auch für ihre Nobilitierung als Bildmotive.

Natürlich war es nicht die im Dienst der Ansichtskartenproduktion stehende Fotografie, welche Stadtmauern als abbildungswürdige Gegenstände entdeckte: Bereits im späten 18. Jahrhundert, und damit zum Glück lange vor ihrem Abbruch, wurden etliche Torbauten von Künstlerhand festgehalten. Damals war oft noch ein naives Bestreben nach Dokumentation von Mittelalterlichem (und möglichst Ruinösem) für die Auswahl von Bildmotiven verantwortlich. Ab dem späten 19. Jahrhundert wiederum standen solche Bauten im Dienst früher Strategien zur Hebung des Fremdenverkehrs, oder sie fungierten schlicht, wie im Fall unserer Ansichtskarte, als Teile einer bürgerlichen „Erholungslandschaft“, welche, gewissermaßen im Schatten historischer Referenzbauten angesiedelt, sich ihrer Historizität im Sinn von Erbe und Verpflichtung bewusst war.

Ralph Andraschek-Holzer, 4. April 2025


Die Ansichtskarte entstammt der Ausstellung Etablierung eines neuen Mediums. Niederösterreich-Ansichtskarten 1895–1945, NÖ Landesbibliothek, St. Pölten, 8. Mai bis 27. Juni 2025.



Permalink: https://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/Promenade-an-der-Mauer-oder-Nobilitierung-eines-Bildmotivs.html

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