Reisen und visuelle Praxis
Wir befinden uns im Jahr 1908, und Viktor, Sohn einer wohlhabenden obersteirischen Gewerkenfamilie, die ihren Lebensmittelpunkt längst in die Hauptstadt Wien verlagert hat, ist auf Reisen. Oder vielmehr nicht auf Reisen im heutigen Sinn, sondern auf „Fußreisen“, wie er es nennt: Es sind ausgedehnte, wochenlange Wanderungen – zuerst unweit des Familiensitzes in der Obersteiermark, dann in den Dolomiten.
Vom 8. auf den 9. August übernachtet der Dreiundzwanzigjährige, wie wir von einer Postkarte erfahren, in einer kleinen Pension in Campitello im trentinischen Fassatal, auf einer Höhe von 1448 Metern. Die Karte zeigt uns das Gebäude: Viktor hat dort wohl nicht nur sein Quartier für die Nacht gefunden, sondern auch eine Poststation – zumindest weist die Fassade des Hauses in großen Lettern darauf hin. Allerdings hat Viktor die dort erworbene Karte gar nicht verschickt, wie man vielleicht annehmen würde. Er hat sie zwar mit der passenden Briefmarke beklebt und sogar abstempeln lassen, aber mit keiner Adresse versehen. Der handschriftliche Text ist vielmehr eine Notiz in eigener Sache: „Aufenthalt in Campitello (Fassatae), hier im Gasthof ‚al Mulino‘ Wohnung genommen. 8./9. August 1908. // 11./12. August 1908. Viktor“. Was hat es damit auf sich?
Die Karte ist Bestandteil eines Albums, und das Album wiederum Bestandteil eines umfassenden Albenbestands aus dem Besitz Viktor Wedls, der von dessen Nachfahren unlängst an das Stiftsarchiv Admont in der Obersteiermark übergeben worden ist. Der Bestand gibt einen Einblick, welche Schnittmengen Reisepraktiken und visuelle Praktiken zu Beginn des 20. Jahrhunderts mitunter bildeten: Für das Album „Reise 1908. Steiermark – Tirol Dolomiten“ etwa erwarb Viktor auf seinen Wanderungen unzählige Postkarten und machte sie zur Grundlage eines umfassenden Dokumentationsprojekts. Er trug ein, wo er Rast gemacht hatte, wo er seine Jause verzehrt oder übernachtet hatte, er vermerkte, ob er noch ein weiteres Mal an diesem oder jenem Ort gewesen war. Er verzeichnete Daten und Uhrzeiten, Wetterbedingungen und Gipfelhöhen. An manchen Tagen waren es bis zu acht Postkarten, die Viktor erworben hat, um seine Wanderungen möglichst lückenlos zu dokumentieren. Das Album insgesamt verwahrt, chronologisch geordnet, mehrere hundert Stück davon – zu einem geringeren Teil ergänzt um Karten, die Viktor an seinen Vater und seine Tante verschickt und wohl später von ihnen für sein Album zurückerhalten hat.
Interessant ist, wie diese Gebrauchsweise des Mediums in gewisser Weise bereits auf spätere Praktiken vorausdeutet. Viktor trägt keine Kamera mit sich, wie das spätere Reisende tun werden. Aber die Postkarten, die er laufend erwirbt, beginnen für ihn – wie das auch das private Fotografieren leisten wird – für konkrete ‚Augenblicke‘ zu stehen: Augenblicke, die er handschriftlich in die Adress-Seiten der Postkarten einträgt und nachträglich, im Ordnen der Bilder, zu einer visuellen Erzählung formt. Dass Viktor sich seine Anwesenheit vor Ort, wo immer möglich, durch einen Poststempel autorisieren ließ, deutet darüber hinaus auf das Potenzial der Postkarte hin, für ihre Betrachter mehr als nur ein Bild zu sein. Die Indexikalität des Stempels, der die Ansichten geradezu physisch und räumlich zu verankern scheint, ist dem fußreisenden Viktor jedenfalls wichtig gewesen: Er fehlt auf keiner Karte.
Eva Tropper, 20. April 2021
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