Leopold Reutlinger, Verlag S.I.P (Société Industrielle de Photographie), Paris: Domino-Spielstein, ab 1903, Silbergelatine, gelaufen am 24.4.1908 von Toulouse nach Carcassonne; Privatsammlung.

Leopold Reutlinger, Verlag S.I.P (Société Industrielle de Photographie), Paris: Domino-Spielstein, ab 1903, Silbergelatine, gelaufen am 24.4.1908 von Toulouse nach Carcassonne; Privatsammlung.

Blick dem Dominostein in die Augen!

Gesellschaftsspiele waren ab Anfang des 20. Jahrhunderts häufige Motive auf Postkarten. Im Gegensatz aber zu jenen wirklich als Spielmaterial verwendbaren Postkarten – hier divergierten die Karten je nach ihrer Verwendung als gedrucktes Spielbrett bei Spielen wie Mühle und ähnlichen oder als Spielobjekt selbst, indem gestanzte Dominosteine aus der Karte herausgelöst werden konnten, – war bei der vorliegenden Karte der Nutzen als Spielgerät eher nebensächlich. Zwar war Domino ein beliebtes Gesellschaftsspiel und wurde in der Wiener Variante des ‚Bukidomino‘ sogar als Glücksspiel mit Geldeinsätzen gespielt, bis es 1916 von offizieller Seite verboten wurde. In diesem Fall versuchte aber der Fotograf wohl eher mit einer verspielten Variante die Porträts junger schöner Frauen unterzubringen, in Form von runden Bildern gleichsam den ‚Augen‘ der Dominosteine. Diese Augen heben sich durch weiße Vignetten vom schwarzen ‚Spielstein‘ ab, wobei die gesamte Postkarte aus beschichtetem Fotopapier (Silbergelatine) besteht, also auch das Schwarz des Hintergrundes durch Belichtung erzeugt wurde. Dies ist deutlich an den Bildschäden an den Rändern, den sogenannten Aussilberungen, erkennbar, welche auftreten, wenn das bildgebende Silber zur Schichtoberfläche wandert und einen kolloidalen Silberbelag bewirkt.

Die Porträtfotografien sowie die Kombinationen selbst stammen aus dem Fotostudio Reutlinger in Paris, das bereits 1850 von Charles Reutlinger eröffnet und in weiterer Folge von seinem jüngeren Bruder Émile sowie später von dessen Sohn Léopold weitergeführt wurde. Charles Reutlinger machte sich durch Fotografien von den Reichen und Schönen der Pariser Gesellschaft einen Namen, sein Neffe Léopold setzte vermehrt auf Postkarten und in seinen Designs vor allem auf aufwändige Produktionen im damals gerade aufkommenden Jugendstil. Darüber hinaus umfasste das Angebot aus dem Studio Reutlinger – angefangen bei erotischen Darstellungen junger Frauen bis hin zu den durch Fotomontage erzeugten surrealen Motiven – viele, mehrheitlich in Serie publizierte Postkarten für den Eigen- wie auch Fremdverlag. Die ‚Dominosteine‘ sind ebenfalls Teil einer Serie, die vom französischen Postkartenverlag S.I.P (Société Industrielle de Photographie) herausgegeben wurde.

Hier konnte Reutlinger seine Steckenpferde ‚Frauen‘ und ‚Spiele‘ in origineller Gestaltung vereinen. Er folgte damit der Bildsprache seiner Zeit, in der vor allem Darstellungen von „bürgerlich-männlichen Wertevorstellungen, Unterhaltungsformen und Scherzkulturen“ den Weg auf die Bildseiten der Postkarten fanden.[1] Bezeichnenderweise waren es zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber vor allem Frauen, die Postkarten verschickten. Dabei konnten die Absenderinnen durch ihre oftmals nicht-intentionellen Verwendungsweisen der Postkarten der eindeutig eindimensionalen Bildsprache etwas entgegensetzen, indem sie diese für ihre Zwecke nutzten. Auf der vorliegenden Karte erlaubte sich etwa die Absenderin vermutlich einen Scherz mit der Adressatin, indem sie einer der porträtierten jungen Frauen möglicherweise aus Gründen der Ähnlichkeit den Namen der Empfängerin zuwies.

Martin Keckeis

 

[1] Eva Tropper, Illustrierte Postkarten. Ein Format entsteht und verändert sich, in: Eva Tropper, Timm Starl (Hg.), Format Postkarte. Illustrierte Korrespondenzen, 1900 bis 1936 (= Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich, Bd. 9), Wien: new academic press, 2014, S. 10-43, hier S. 25 f.



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