Anonym, Grüße aus dem Fotoatelier, 1901, Silbergelatineabzug, Slg. Mila Palm

Anonym, Grüße aus dem Fotoatelier, 1901, Silbergelatineabzug, Slg. Mila Palm

Das Fotoatelier, ein (un)gewohntes Setting

Vorliegende Karte stammt aus einer umfangreichen Postkartensammlung zum Themenkomplex Fotografie und Kameratechnik. Bereits um 1900, einer Blütezeit des Mediums, entstehen Glückwunsch-, Humor- oder Werbekarten zu diesem Thema. Speziell in Frankreich findet man Serien, die sich explizit auf die fotografische Praxis im Atelier beziehen. Offenbar waren die Erfahrungen im Fotostudio es wert, kommentiert und geteilt zu werden. Auf dieses Bedürfnis reagierten die Verleger, in der Absicht immer neue, ausgefallene und lustige Motive für ihre sammelwütige Klientel zu finden, die sich oft mehrfach am Tag Karten schickte.

Der anonyme Fotograf unserer Ansichtskarte bewegte eine offensichtlich vertraute Gruppe dazu, eine Ateliersituation darzustellen. Drei der Dargestellten tragen Uniform, die anderen drei präsentieren sich in ziviler Kleidung (die Kappen auf der Balustrade lassen eine Studentenverbindung vermuten). Einer der Soldaten mimt den Fotografen und begrüßt seine Freunde vor der Kamera. Interessant ist die Verteilung der Blickrichtungen, die das „doppelte“ Auftreten des Fotografen anzeigt. Während zwei Männer auf die Geste des fingierten Fotografen vor ihnen reagieren, dreht sich der Vorderste zum tatsächlichen Fotografen hin und lächelt ihn an. In entspannter, unbeschwerter Atmosphäre scheinen sich die jungen Männer an ihrer Inszenierung zu erfreuen. Ihre Körperhaltung entspricht nicht einem vorbildlichen bürgerlichen Habitus, denn auf einem zeittypischen Atelierfoto präsentierte sich niemand lächelnd auf dem Boden sitzend. Die Runde scheint sich über das klassische Studioporträt dieser Zeit lustig zu machen, in welchem die bürgerliche Gesellschaft ihren Status zelebriert.

Da die Studiorequisiten und ihr artifizieller Charakter gut sichtbar sind, lässt sich auch die Grenze zwischen Inszenierung und Wirklichkeit problemlos ausmachen. Der Leinwandhintergrund, eine gemalte Parklandschaft, erstreckt sich nicht über das komplette Bild, sodass ihre Seitenbegrenzungen deutlich sichtbar sind. Die Landschaft geht nahtlos in einen Teppich über, auf dem ein Podest und eine Balustrade, beides Pappmaché-Imitate aus dem fotografischen Bedarfshandel, zu stehen kommen. Diese beiden Kulissen sind ohne Funktion, der Hausaltar rechts verfügt über keinen Bezug zum übrigen Interieur. Mit diversen Requisiten wird der gehobene Lebensstil imitiert.

Diese in sehr kleiner Stückzahl, vermutlich nur für die Beteiligten und ihren Freundeskreis hergestellte Karte (es handelt sich um einen Silbergelatineabzug) wurde nicht verschickt, sondern an Frau Mitzi Stephelbauer in Enns übergeben. Das Motiv erscheint unten angeschnitten, da der Fotograf das Negativ abgeklebt hat, um am unteren Rand ausreichend Platz für eine Beschriftung zu lassen. Der Kommentar beziehungsweise die Nachricht sollte also gemeinsam mit dem Bild konsumiert werden. Es liegt nahe, dass einer der Dargestellten, ein gewisser „Hans“, diese Karte seiner Freundin oder Bekannten am 23. November 1901 gewidmet hat. Da die Karte für einen privaten Gebrauch ausgerichtet ist, wird der Fotograf und Besitzer dieses Ateliers in die Konzeption des Motivs involviert gewesen sein. Möglicherweise wurde diese Karte als Neujahrsscherz für die Freunde des Fotografen hergestellt.

Mila Palm, 19. Oktober 2022



Permalink: https://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/das-fotoatelier-ein-ungewohntes-setting.html

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