Einladung zur Ausstellung „10 Jahre Selbstverlag – Publikationen von Thomas Bachler“, Kassel 1997, Postkarte, ungelaufen; Privatsammlung

Einladung zur Ausstellung „10 Jahre Selbstverlag – Publikationen von Thomas Bachler“, Kassel 1997, Postkarte, ungelaufen; Privatsammlung

Die eine Seite der Ikone

Auf dem Wiener Ostbahnhof kommt 1947 ein Zug mit entlassenen österreichischen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion an. Sie werden von Politikern und einer jubelnden Menge empfangen, aber auch von Frauen, Müttern und Kindern, die ihren Mann, Sohn oder Vater in der Menge der Heimkehrer wiederzufinden hoffen. Vor allem diese Menschen beobachtet ein junger Fotoreporter, Ernst Haas (1921–1986), sieht die Freude in ihren Gesichtern, wenn sie einen Rückkehrer in die Arme schließen können, und die Trauer und Verzweiflung, nachdem sie niemanden erkennen konnten. Eine Frau hält den Ankommenden ein Porträtfoto entgegen in der Hoffnung, jemand würde dem Soldaten in der Gefangenschaft begegnet sein und sich an ihn erinnern.

Zwei Aufnahmen macht Haas von der Frau mit der darbietenden Fotografie. Doch die Szene, in der sich einer der Heimkehrer ihr zuwendet, findet kein Interesse in den Zeitungsredaktionen. Sondern jene, in der ein freudig lächelnder Mann an ihr vorbeieilt und sie nicht beachtet, wird zwei Jahre später in der von der amerikanischen Besatzungsmacht in München herausgegebenen Zeitung Heute am 3. August 1949 abgebildet. Sie gehört zu den Illustrationen, die innerhalb der Reportage „Die Frauen warten“ veröffentlicht werden und wie folgt unterschrieben ist: „Gruppen von Heimkehrern werden von Hunderten umringt, abgegriffene Photographien werden ihnen entgegengestreckt, und wer kein Bild hat, ruft ihnen unablässig zu: ‘Wer kennt ...’“

Knapp ein halbes Jahrhundert später schildert Christoph Ransmayr in seinem Roman Morbus Kitahara von 1995 die Ankunft eines Zuges mit entlassenen Kriegsgefangenen: „Ein Dickicht von Armen wogte ihnen entgegen, ein Einerlei aus Gesichtern, in der Blendung kaum zu erkennen. Zerrupfte Blumen und Fotos, Bilder von Verschollenen, wurden ihnen wie Trümpfe in einem Kartenspiel gegen den Tod entgegengestreckt, Namen und Bitten zugerufen, Beschwörungen: ‘Hast du den hier gesehen ...“ Ohne Zweifel hat dem Schriftsteller, Jahrgang 1954, das Bild als Anregung für seine Beschreibung gedient. Zwar haben auch andere Fotografen die Rückkehr der Entlassenen für die Presse festgehalten und wartende Frauen mit Fotos in den Händen abgelichtet, aber der Schnappschuss von Ernst Haas ist zu einer Ikone geworden. Die Darstellung ist nicht nur der älteren Generation geläufig, sondern zeitigte auch nachhaltige Wirkung durch häufige Veröffentlichung in historischen wie pädagogischen und anderen Werken bis heute. Woran liegt es, dass diese Aufnahme einen derartig prominenten Platz in der Bildgeschichte der österreichischen Nachkriegsgeschichte einnimmt?

Mit entscheidend ist sicherlich, dass die Affekte zweier Personen in einer besonderen Situation herausgestellt werden: Da ist die ängstlich blickende Mutter, die das Bild des vermissten Sohnes vor sich hält und hofft, jemand könne ihr etwas über seinen Verbleib sagen; da ist auf der anderen Seite der strahlende Heimkehrer, der gewissermaßen in die Zukunft eilt und froh ist, alles hinter sich zu haben. Diese beiden Figuren stehen mit ihren momentanen Empfindungen vor der jüngsten Vergangenheit, es geht nur noch um die Heimkehr aller und den Wiederaufbau der zerstörten Heimat. In diesem Bild stellen sich  keine Fragen nach Verantwortung und Schuld. Und insofern handelt es sich um einen bildlichen Akt der Verdrängung, in dem sich das Befinden der meisten Österreicher in den Jahrzehnten nach 1945 ausdrückt. Man wollte nicht über die Teilhabe an den Gräueln der Nazizeit reden, nichts soll daran erinnern. Wir haben selbst genug gelitten, und jetzt heißt es nach vorne schauen.

Wenn um 1990 der Fotokünstler Thomas Bachler (Jahrgang 1961) nur die eine Seite des Aufeinandertreffens  der beiden Personen andeutet, setzt er auf die große Menge an Zeitgenossen, denen das Kultbild geläufig ist. Zugleich dekonstruiert er es auf mehrfache Weise. Auch wenn sich das Vergangene oft nur schemenhaft im Gedächtnis festgesetzt hat, so erwächst daraus unser Begriff von Geschichte. Dieser konstituiert sich aus der Begegnung mit Menschen, Texten und Bildern. Der Gestus der Frau deutet auf ihre gegenwärtige Situation, mit dem Bild in ihrer Hand bekundet sie ihre Erinnerungen und Hoffnungen. Wegen der Abstinenz des vorbeieilenden Heimkehrers wird das Artefakt von seiner pathetischen Tendenz befreit. Zugleich weist es auf jene, denen lediglich die eigene Verfassung von heute den Blick in die Zukunft werfen lässt. So wird gewissermaßen auch Stellung gegen die Verfechter der Posthistoire der 1980er-Jahre genommen. Und nachdem dieser einseitigen Orientierung nach wie vor viele nachhängen, kann der hier praktizierte Umgang mit Bildern und der Bildgeschichte auch heute noch als durchaus modern gelten.

Timm Starl



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