Die Geliebte als Idol
In Folge einer Zufallsbegegnung auf einem karitativen Flohmarkt kommt es zum Kauf von vier Postkarten, die bis dato in Familienbesitz waren und Teil eines äußerst umfassenden Nachlasses sind. Sie alle zeigen auf der Bildseite dasselbe junge Modell in verschiedenen Posen und sind von einer männlichen Person an eine gleichbleibende Adressatin gerichtet. Ein paar Sätze werden mit der Erbin des Nachlasses gewechselt, die besagen, dass die langjährige Korrespondenz als letztlich gescheitertes Liebeswerben in die Biografie der Protagonist*innen eingegangen ist – eine Information, die sonst bei einem Besitzerwechsel von persönlichen Objekten oft verlorengeht. Die biografische Tragik ist jedoch den Karten selbst nicht eingeschrieben, denn die Nicht-Erfüllung des ersehnten Beziehungsglücks ist zum Zeitpunkt des Verfassens, Versendens und Erhalts der Karten noch in weiter Zukunft angesiedelt. Daher soll das Augenmerk auf jene Fakten gelegt werden, von denen die Karten zeugen.
Aus einer Auswertung der Adressseiten lassen sich folgende Hinweise destillieren: Die vier Karten – hier sind exemplarisch die erste (Abb. 1) und die letzte (Abb. 2) abgebildet – wurden innerhalb von knapp zwei Jahren versandt, nämlich zwischen 16. Januar 1909 und 25. November 1910. Die Empfängerin war in diesem Zeitraum an drei verschiedenen Wohnadressen erreichbar, wobei sich zwei in Wien und eine im mährischen Groß Niemtschitz/Velké Němčice befanden. Die handschriftlichen Texte schließlich reihen sich in jene Charakteristika der Liebeskommunikation ein, die Anett Holzheid unter anderem in ihrer sprachwissenschaftlichen Studie Das Medium Postkarte (2011) herausgearbeitet hat. Sie sind dadurch bestimmt, häufig Kontakt aufzunehmen, um Nähe herzustellen und bedienen sich kurzer, die Befindlichkeit der Kommunikationspartner*innen oder die Aussicht auf ein Wiedersehen thematisierende Phrasen anstatt eines pathetischen und gefühlsbetonten Liebesdiskurses. „Es geht mir heute viel besser, so dass ich doch hoffe bald wieder ganz hergestellt zu sein.“ oder „Auf Wiedersehen morgen“ lauten die entsprechenden Nachrichten. Auf keiner der Karten verabsäumt es der Absender, Küsse zu senden, wobei diese anfangs in einem „K.“ verschlüsselt sind und erst auf der letzten Karte als „innigste Küsse“ ausgeschrieben werden. Auch der Name der Empfängerin wird für Leser*innen, an die sich die Botschaft nicht richtet, mit einer Initiale (die möglicherweise auf einen Kosenamen referiert) unkenntlich gemacht. Der Adressat selbst gibt sich auf den beiden Karten von 1909 mit einem „O.“ zu erkennen, bevor sich seine Signatur im darauffolgenden Jahr zu „Robert“ wandelt. Der Verzicht auf Abkürzungen lässt in beiden Fällen auf eine größere Vertrautheit wie auch auf einen zunehmend offiziellen Status der Beziehung schließen.
Die Motive auf der Bildseite wirken heute wie aus der Zeit gefallen: Ein wie eine Puppe gekleidetes Mädchen nimmt unterschiedliche Posen ein, die alle mit Romantik, Sehnsucht und Liebesverlangen konnotiert sind. Vermutlich waren Bildschöpfungen dieser Art dazu bestimmt, der Adressatin zu schmeicheln, führen sie ihr doch ihre Jugend, Schönheit und Unschuld vor Augen. Sie sind Teil einer Serie des Verlags E. A. Schwerdtfeger & Co. und wurden als Echtfotopostkarten ausgearbeitet. Während das Gros der für Liebesgrüße bestimmten Postkarten Paare zeigen, ist es hier die Frau alleine, die offensichtlich noch auf ihren Partner wartet. Das Kaufen und Versenden von Motiven dieser Art kann durchaus als bedeutsamer Akt im Prozess des Werbens interpretiert werden. Zunächst nimmt der junge Mann fotografische Bilder in Besitz, die ihm als Stellvertreter für das reale Subjekt dienen. Die Fotografien des im Liebeskontext inszenierten Mädchens haben die Funktion eines Idols im Sinne einer schwärmerisch verehrten Frau. Der Stamm des Wortes „Idol“ enthält das griechische „eidolon“, das konkret das Schattenbild einer nicht anwesenden Person bezeichnet, wodurch ein Bezug zur Fotografie als indexikalischem Medium hergestellt werden kann.
Mit dem Akt des Versendens einer solchen Karte durch einen Mann an seine Angebetete findet in Folge eine durchaus machtvolle Projektion statt: Er überträgt die Geste des Herbeisehnens des Geliebten imaginär auf die Adressatin. Nicht sein Verlangen ist bildwürdig, sondern das reziprok erhoffte, das der Empfängerin ein bestimmtes ideales Rollenbild vor Augen führt. Unüblich ist im vorliegenden Fall die Gebrauchsweise dieser Karten. Offensichtlich war es nicht Ziel und Zweck, alle Motive innerhalb kurzer Zeit der Adressatin zukommen zu lassen, wie es bei Serienkommunikaten der Fall ist. Vielmehr wurden die einzelnen Postkarten im Abstand von mehreren Monaten verschickt, ein Motiv kommt dabei doppelt vor. Daraus lässt sich schließen, dass die Adressatin die Postkarten nicht als Sammelbilder verwendet hat, wäre es doch durchaus unhöflich gewesen, sie so lange auf die Vervollständigung der Serie warten zu lassen. Vermutlich wurden mehrere Karten dieser Serie bei derselben Gelegenheit gekauft, um einen Vorrat an Postkarten anzulegen – ein Hinweis auf die Entschlossenheit des Brautwerbers, eine langanhaltende Korrespondenz mit seinem Idol zu beginnen.
Christina Natlacen, 1. Juli 2022
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