Anonyme(r) Wanderfotograf(in), ohne Verlag: Junge mit Fahrrad, 1930er-Jahre, Silbergelatinepapier, ungelaufen; Privatsammlung

Anonyme(r) Wanderfotograf(in), ohne Verlag: Junge mit Fahrrad, 1930er-Jahre, Silbergelatinepapier, ungelaufen; Privatsammlung

„Die Photographie, ein leichtsinniger Luxus“

Eine Postkarte als Fundstück auf dem Flohmarkt: Um wenige Euro erstanden, zeigt sie die Fotografie eines Buben am Wegesrand, der sein Fahrrad etwas ungelenk hält. Die Figur findet sich leicht in die rechte Hälfte des ovalen Bildausschnitts gerückt, der unter Missachtung eines symmetrischen Maßverhältnisses linksseitig auf der Karte positioniert ist. Der Junge trägt einen Dreiteiler, dazu eine Kappe, steht aufrecht und blickt direkt in die Kamera – man ist gewillt, in Mimik und Pose einen gewissen Stolz zu entdecken. Im Gegensatz dazu steht der wenig dekorative Hintergrund, der nicht mehr als eine „Wand“ aus kahlem Gestrüpp beinhaltet. Gesicherte Daten sind – nicht zuletzt aufgrund der unbeschriebenen Rückseite – nicht vorhanden.

Es mag zunächst als unangemessen erscheinen, diesem überlieferten Zeugnis der Alltagskultur ein Zitat Pierre Bourdieus aus dem Buch Eine illegitime Kunst (französische Erstausgabe 1965) voranzustellen, in dem von der Fotografie als „leichtsinnige[m] Luxus“ die Rede ist. Der französische Soziologe untersucht darin mit anderen ForscherInnen zum ersten Mal in einer breit angelegten Studie die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie im ländlichen Raum. Ziel ist es in Erfahrung zu bringen, wie sich der Status dieses visuellen Mediums von der urbanen Bildkultur unterscheidet. Vor allem im bäuerlichen Milieu stellt die Fotografie bis in die 1960er-Jahre ein rares Zeugnis von besonderen Lebensmomenten dar, das in der Regel der sichtbaren Dokumentation des Familienzusammenhalts dient. Wie kann diese bescheidene fotografische Postkarte als etwas Luxuriöses tituliert werden?

Je kleiner und entlegener die dörfliche Gemeinde, desto seltener existierte vor der Verbreitung von Amateurkameras die Gelegenheit sich porträtieren zu lassen. Neben dem gezielten Aufsuchen eines städtischen Fotoateliers stand den LandbewohnerInnen die Option offen, die Dienste eines vorbeikommenden ambulanten Fotografen zu nutzen. Diese zogen noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Provinz und suchten, diverse Anlässe für ein Geschäft zu nützen. Das Image dieser auch Wanderfotografen genannten VertreterInnen des fahrenden Volkes, denen es oft an einer professionellen Ausbildung und Ausrüstung mangelte, war nicht besonders gut. Sie wurden generell als „zweifelhafte ‚Künstler‘“ verunglimpft und abschätzig „Bänkel-Vagabunden“ genannt, wie ein Korrespondent der Deutschen Photographen-Zeitung im Jahr 1904 deren Status quo in Deutschland beschrieb. Ein scharfer Wind blies ihnen auch von Seiten der sesshaften Atelierfotografen entgegen, die vor allem aus Gründen der fairen Konkurrenz einen Wandergewerbeschein einforderten.

„Mein Gott, Johann, ein Wanderphotograph!“, ruft die Mutter in Martin Walsers autobiografischem Roman Ein springender Brunnen, als der fünfjährige Protagonist davon berichtet, soeben abgelichtet worden zu sein. Die Situation ähnelt verblüffend jener der vorgestellten Postkarte: Auf der Dorfstraße veranlasst in den frühen 1930er-Jahren ein fremder Mann den von einem Friseurbesuch auf seinem Rad heimkehrenden Johann zu halten. Dieser ist geschmeichelt und kann der Versuchung, auserwähltes und alleiniges Motiv einer Fotografie zu sein, nicht widerstehen. Zusätzlich verlockend ist es, sich zu einer Zeit, als der Besitz eines Fahrrades noch etwas Besonderes war, mit diesem freiheitsversprechenden Verkehrsmittel zu präsentieren.

Die Bildzeugnisse der Wanderfotografen erkennt man insbesondere an ihrer einfachen und billigen Ausarbeitung. Wichtig war eine möglichst rasche Entwicklung der Bildnisse, um sie noch am Ort der Aufnahme zeitnah zu verkaufen. Karin Walter hält in ihrem Buch Postkarte und Fotografie fest, dass ab 1910 Bromsilberpapiere im Postkartenformat für Porträts von den reisenden Fotografen genutzt wurden. Auf den ersten Blick scheinen diese Real Photo Postcards (RPPC) als Porträtbilder mit dem um eine Nuance repräsentativeren Kabinettformat nicht mithalten zu können – dafür aber besaßen sie als Gebrauchsbilder den Vorteil der integrierten postalischen Funktion. Für Johann aus Walsers Roman zählt jedenfalls nur, dass er fortan derjenige ist, der fotografiert worden war – ob im Atelier oder unter freiem Himmel, ob im Kabinett- oder Postkartenformat ist irrelevant.

Die Mutter hingegen ist ob dieses Zwischenfalls wenig erfreut, stand es doch bislang innerhalb der Familie nur dem Vater während seines Fronteinsatzes im Ersten Weltkrieg zu, ein Einzelporträt von sich anfertigen zu lassen. Aufgrund der ungewollten Kosten beklagt sie vielmehr, dass ihr Bub ein leichtes Opfer dieses in ihren Augen heimtückisch agierenden Fotografen wurde. Sie sieht im Porträt ihres Sohnes keine glückliche Fügung des Zufalls und kein wertzuschätzendes Erinnerungsstück, sondern einen leichtsinnigen Luxus.

Christina Natlacen, 1. September 2020



Permalink: https://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/die-photographie-ein-leichtsinniger-luxus.html

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