Ein böses Omen – „Meergeist der Nordsee“
Eine Strandpromenade ist eingehüllt in die Gischt von aufprallenden Brandungswellen während eines heftigen Sturms. Die Adress-Seite klärt uns auf: Es handle sich hier um eine „Original-Aufnahme während der Sturmflut vom 9. September 1924“. Und weiter: „Das Bild zeigt den Kopf eines Meergeistes im Profil.“ „Meergeist der Nordsee“ ist auch der Titel der Aufnahme vom Fotograf H. Herold, der in der Friedrichsstraße in Westerland ein Fotohaus sowie einen Postkartenverlag betrieb und sonst vorrangig Prominente in der Touristendestination auf Sylt fotografierte.
Dies erfordert nun ein genaueres Betrachten der Fotografie, war es dem Fotografen tatsächlich gelungen, den Kopf eines Geistes festzuhalten? Und wirklich, die Konturen der Brandungswelle im Vordergrund zeigen unverkennbar die Silhouette eines Gesichtsprofils. Ähnlich einer optischen Täuschung nach dem Inversionsprinzip, auch als Rubinscher Becher bekannt, springt unser Gehirn auf die Illusion an und verinnerlicht sie.
Die Ursache dafür liegt darin, dass unsere Wahrnehmung ständig die verschiedenen zu verarbeitenden visuellen Konstellationen strukturiert und Gestalten extrahiert. Das geschieht auch, wie im vorliegenden Fall, dann, wenn nur amorphe Formen und ein an sich bedeutungsloses Gebilde zu sehen sind. Für die Akzeptanz eines Gesichts reichen schon ein paar hervorstechende Merkmale, damit unsere Wahrnehmung es wie den menschlichen Körper als Gesamtstruktur erfasst. Es fällt uns also nicht schwer, dem Eindruck des Fotografen zu folgen und das Profil eines Kopfes zu erkennen.
Da für die Postkarte aber angeblich ein Abzug einer Originalaufnahme verwendet wurde, musste ein noch wichtigerer Faktor erfüllt sein: der Zufall. Bei fotografischer Abbildung von bewegten Motiven wie Wellenbewegungen von Wasser ist dieser stets der eigentliche Gestalter der Aufnahme. Was schlussendlich auf dem Negativ festgehalten wird, erschließt sich beim Blick durch den Sucher der Kamera zunächst nicht. Ein Schnappschuss offenbart im Bild, was dem Betrachter im realen Leben vorenthalten wurde. Er ist die Momentaufnahme eines real nicht existierenden Stillstandes, die Details werden erst im Laufe des Entwicklungsprozesses sichtbar.
Schließlich ist doch davon auszugehen, dass der Fotograf nach Entdeckung dieses Details noch Hand am Negativ angelegt und mittels Retuschen die Konturen der Gestalt hervorgehoben hat. Darauf lässt sich unter anderem daraus schließen, dass weitere als Postkarte erhältliche Abzüge der Aufnahme noch viel massiver manipuliert wurden, bis hin zum gänzlichen Verschwindenlassen der Strandpromenade, um den Meergeist prägnanter im Vordergrund zu positionieren.
Manipulationen wurden schon Ende des 19. Jahrhunderts vielfach von Fotografen angewendet, um die nur in der Vorstellung existierenden Erscheinungen für ihre Kundschaft als Abbildung zu materialisieren. Dabei wurde mit Filtern und bereits vor-belichteten Platten experimentiert, manche Fotografen gingen soweit und manipulierten den ganzen Aufnahmevorgang, indem sie Glaspositive mit entsprechenden Motiven bei Belichtung dazwischenschalteten.
Das Motiv der Karte „funktioniert“ aber auch aus einem anderen Grund: An der Nord- und Ostseeküste wird das Meer wegen extremer Wetterlagen immer auch als Bedrohung angesehen, zu oft schon war der Kampf gegen die Naturgewalten verloren gegangen. In nordischen Sagen und Legenden werden Meergeister unter anderem als eine mögliche Erklärung für die vermeintliche Willkür der Kräfte des Meeres überliefert. Für Seeleute auf hoher See war es demnach ein schlechtes Omen, wenn sie einen Meergeist (Klabautermann/Putermann) erblickten, bedeutete das doch, dass ein Unglück für das Schiff und seine Besatzung unmittelbar bevorstand. Dies hat offenbar auch für die Erscheinung am 9. September 1924 gegolten, denn noch im selben Jahr fiel die gesamte Strandpromenade einer heftigen Sturmflut zum Opfer und musste im Jahr darauf inklusive Musikpavillon komplett neu aufgebaut werden.
Martin Keckeis
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