Unbekannte/r Fotograf/in: „Wien, IX., Donaukanal“, Silbergelatineabzug („Echte Photographie“), um 1935, ungelaufen; Privatsammlung

Unbekannte/r Fotograf/in: „Wien, IX., Donaukanal“, Silbergelatineabzug („Echte Photographie“), um 1935, ungelaufen; Privatsammlung

Eine besondere Karte des Alltags

Illustrierte Postkarten transportieren vor allem marktfähige und stereotype Darstellungen von Stadt und Landschaft. Ihr wesentliches Charakteristikum ist die „schöne“ beziehungsweise geschönte Ansicht. Dergestalt wurden und werden die zentralen Sehenswürdigkeiten für den touristischen Gebrauch oder fürs Sammelalbum im Bild (re)produziert. Von der Jahrhundertwende bis in die Zwischenkriegszeit diente die Ansichtskarte jedoch auch als ein Bildmedium des Alltags und der Nebengassen. Diese motivische Vielfalt war nicht zuletzt möglich durch die Beteiligung von lokalen FotografInnen und VerlegerInnen an der Produktion sowie durch Reproduktionsverfahren, welche auch kleinere Auflagen und dadurch speziellere Motive erlaubten.

Ein anschauliches Beispiel für Alltagsfotografie auf Ansichtskarten ist die vorliegende, seltene Fotopostkarte vom Donaukanal in Wien aus den dreißiger Jahren. Sie zeigt einen zwar weniger prominenten, aber perspektivisch ansprechend eingefangenen Abschnitt des Donaukanals mit Blick stadtauswärts zum Wienerwald und zum Kahlenberg. In der Bildmitte ist ein Teil der von Otto Wagner entworfenen Stadtbahnstation und des 1925 fertiggestellten Sigmund-Freud-Hofes zu sehen. Gleichzeitig hielt der/die FotografIn im Vordergrund eine Gruppe von Jugendlichen bei der damaligen Brigittabrücke (heute Friedensbrücke) fest. Während andere Personen im Bild im Fluss baden oder sich an dessen damals noch wesentlich weniger begrünten Ufer sonnen, üben sich die Jungen im Kopfspringen von der hohen Uferbefestigung unter der Brücke. Ein für heutige Verhältnisse durchaus ungewohnter Anblick. Man fragt sich, was in diesem Fall wohl das wichtigere Motiv war: die periphere Stadtansicht oder die (vermutlich) alltägliche, aber zugleich spektakuläre Szene? Man könnte in Summe davon ausgehen, dass das Sujet kaum ein Renner am Ansichtskartenstand war. Für wen und warum wurde es letztlich produziert?

Diese Frage kann hier lediglich ansatzweise und hypothetisch beantwortet werden. Der/Die FotografIn der Karte ist nicht bekannt. Dass es sich um eine kommerziell produzierte Ansichtskarte und nicht um private Fotografie auf Postkartenpapier mit gezacktem Büttenrand handelt, ergibt sich lediglich durch die nur schlecht ersichtliche Beschriftung, eine Ortsangabe, auf der Bildseite links unten. Auf mehrere Aufnahmen vom selben Standort deutet weiters die Zahl („4“) rechts unten hin. Weitere vergleichbare Motive, die insgesamt eine Serie gebildet hätten, sind nicht bekannt.[1] (Dass die abgebildeten Jugendlichen die Auftraggeber oder Hauptabnehmer dieser Ansichtskarte waren, ist eher unwahrscheinlich. Die Gäste der damals noch in Betrieb befindlichen städtischen Strombäder und Badeschiffe bei der Aspernbrücke und bei der Nußdorfer Wehranlage waren an diesem Motiv vermutlich auch nicht in erster Linie interessiert, bildeten doch diese gleichsam den Gegenpol zum „Wildbaden“ und freien Schwimmen, das im Donaukanal an sich untersagt war, aber vielfach praktiziert wurde.)

Wir könnten es hier mit einer Sonderform der illustrierten Postkarte zu tun haben: Diese bestand darin, dass ein/e AmateurfotografIn das eigene Motiv bei einem Verlag oder professionellen Fotografen als „anonyme“ Ansichtskarte ausarbeiten ließ.

Doch in der Zwischenkriegszeit gab es noch eine weitere Art oder Gelegenheit, im Donaukanal zu schwimmen, nämlich im Rahmen der Strommeisterschaft „Quer durch Wien“. Dieses einmal jährlich stattfindende Wettschwimmen fand jeweils zwischen Nußdorf und der Urania oder zwischen der Brigitta- und der Sophienbrücke (heutige Rotundenbrücke) unter Teilnahme Hunderter SportlerInnen statt. Zum Programm dieser Stadtevents, die von Tausenden Schaulustigen auf beiden Ufern des Donaukanals verfolgt wurden, zählten auch Kunstspringen und gar Gruppenspringen von Brücken. So ist es vorstellbar, dass der/die FotografIn das gegenständliche Motiv auch bei solchen Veranstaltungen als Souvenirbild erfolgreich absetzte. Ebenso ist möglich, dass er/sie die Szene als vagen bildlichen Rekurs an die erwähnten Schwimmwettkämpfe verewigte, die ja ab 1932 nicht mehr in Wien stattfanden. Oder aber, und diese dritte Annahme könnte am realistischsten sein, er/sie fand das waghalsige Treiben der Jugendlichen vor der Kulisse des nordwestlichen Stadtrandes schlicht und einfach motivwürdig. Auf diese Weise gelangte jedenfalls eine einst verbreitete und in der Zwischenzeit weitgehend verschwundene Alltagspraxis am Donaukanal als Motiv ins Nischenrepertoire von Wiener Ansichtskarten.

Sándor Békési, 17. Juni 2021

 

[1] Für diese Information danke ich recht herzlich Helfried Seemann.



Permalink: https://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/eine-besondere-karte-des-alltags.html

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