Eine etwas rätselhafte „Correspondenz“
Vorliegende „Correspondenz-Karte“ fasziniert mich. Ungeachtet dessen, dass Postkarten oft als kommunikatives Instantprodukt belächelt wurden und werden, wusste Adressant „Lulu“ sich die Karte offensiv anzueignen, indem er Bild und Textelemente gewitzt aufeinander bezog und so seinen Mitteilungsabsichten gefügig machte. Gewählt wurde eine 1897 datierte Karte des gerade eben gegründeten Postkartenverlags Carl Ledermann jun. (Wien). Sie zeigt eine in Lichtdruck reproduzierte, vignettierte Fotografie – damals der letzte Schrei am Postkartenmarkt. Die Aufnahme, wahrscheinlich aus 1887, stammt von Victor Angerer, der zu jener Zeit einen größeren Korpus sogenannter Momentfotografien von belebten Wiener Straßenszenen fertigte. Diese Schnappschüsse, wie man sie heute heißt, bezogen ihren Reiz – anders als durchkomponierte, arrangierte Bilder – aus einer Ästhetik des Zufalls. Diese war durch jüngste fototechnische Errungenschaften, welche die Belichtungszeiten drastisch verkürzten, möglich geworden. Ledermann, stets auf der Suche nach geeignetem Bildmaterial, fand offensichtlich Gefallen an Angerers Straßenbildern und verlegte etwa vier Dutzend, vielleicht auch mehr davon, ohne freilich jemals dessen Bildautorschaft zu verzeichnen. Die Fotografien visualisierten die Stadt aufregend neu und bereicherten das Verlagssortiment entschieden, denn dessen Schwerpunkt lag auf topografischen Sujets (Straßenzüge, Plätze und einzelne Repräsentationsarchitekturen), in denen Menschen höchstens die Rolle von Staffagefiguren zukam.
Auf der Postkarte ist eine der hölzernen Praterhütten (Nr. 157) zu sehen, darin untergebracht „Krieger Fotografisches Etablissement“ und eine demselben Besitzer gehörende „Schiess-Halle“. Davor, angezogen von den Attraktionen, tummelt sich eine Menschenmenge. Das „Etablissement“ ist kein herkömmliches Porträtatelier, sondern bot – wie zwei weitere Konkurrenten im Prater (Emma Willardt, Karl Pretscher) – (amerikanische) Schnellfotografie. Eines der Schilder annonciert: „Ein Bild gleich zum mitnehmen“ (was nicht auf der Postkarte, sondern allein auf dem fotografischen Abzug zu entziffern ist). Für 40 Kreuzer, so der aufgepinselte Preis an der Budenseitenwand wenigstens zum Zeitpunkt der Aufnahme, erhielt die Kundschaft eine Ferrotypie im Format einer Carte de visite (ca. 9 × 6 cm). Ihr Schichtträger besteht, wie der Name schon bedeutet, aus dünnem Eisenblech, dessen dunkle Lackierung das Negativ wie ein Positiv wirken lässt. Damit fallen die zwei ansonsten separierten Arbeitsschritte in eins. Zwar ein Unikatverfahren, einigermaßen kontrastschwach und unrepräsentativ in den Augen bürgerlicher Kundschaft, besaß diese Form der Fotografie dennoch ein unschlagbares Atout: sie sparte Zeit und Kosten. Anstatt wie üblich erst am nächsten Tag die Bilder abzuholen oder durch einen Boten ausgehändigt zu bekommen, konnte man sie sofort einschieben. Deshalb traf man Schnellfotografen auf Volksfesten, in Vergnügungsparks, an Ausflugsdestinationen und in Seebädern und anderen popularen Vergnügen an.
Nun zu Lulus Nachricht vom 20. September 1897 an „Frau Erny Krickl“ aus dem Streusiedlungsgeflecht Singerin-Naßwald-Oberhof, gelegen im Gebiet der Raxalpe in Niederösterreich. Er kreierte eine Botschaft voll der schwebenden Bezüge, indem er das Gefüge von Bild und Legende zweier Operationen unterzog: erstens intervenierte er in die gedruckte Bildlegende, zweitens ergänzte er diese um eine handschriftliche Anmerkung. Zur Legende: Er schrieb sie um, indem er die ursprünglich schlichte Ortsangabe samt näherer Bestimmung durch die eingeschobene kopulative Konjunktion „u.“ in zwei Subjekte aufspaltete, in die er darüber hinaus durch das Unterstreichen von Wortteilen noch zwei weitere Akteure einlagerte („Volks-Prater u. Schnell-Fotograf.“). Unmittelbar unter die Legende setzte er einen mit dieser in ein Wechselverhältnis tretenden Kommentar: „Sind schwer von einander zu trennen / Doch sollt’ man in logischer Consequenz / Ihn Schnellfotobürger benennen!“
Damit reicherte Lulu wortspielerisch den vormals einförmigen Sinngehalt um einen schillernden, klassenbewussten Akzent zum Gebrauch der Fotografie an. Mein Lektürevorschlag zur Güte: Das Bild von der drängenden Menschentraube vor dem Geschäftslokal belegt überzeugend die in der ersten Aussage konstatierte unverbrüchliche Zusammengehörigkeit von Fotograf und Prater beziehungsweise umgekehrt erlaubt das Bild unbedingt eine solche Schlussfolgerung. Mit Blick auf das Unterstrichene darf überdies gelesen werden: Heutzutage sind Volk und Graf (synekdochisch für Aristokratie) ununterscheidbar geworden – nämlich in der und durch die Lichtbildnerei; und durch den allen gemeinsamen universalen Drang, ein Konterfei seiner selbst sein Eigen nennen zu wollen. In diese Lesart lassen sich auch die restlichen zwei Zeilen eingemeinden. Die einst nur den oberen Klassen vorbehaltene Dienstleistung (humorvoll-raffiniert angedeutet durch Unterstreichen der Endsilbe in „Fotograf“) hat sich mittlerweile in gewisser Weise demokratisiert. So nobilitiert die Fotografie die einen und stuft die anderen herunter: zur Geltung gebracht in der kalauernden Wortschöpfung „Schnellfotobürger“. Allerdings lässt dieser Begriff erkennen, dass trotz Lulus Annahme eines klassenübergreifenden Wunsches nach Abbildung längst nicht alle sozialen Distinktionen eingedampft waren. Die jeweiligen Bestimmungswörter der Komposita indizieren Unterschiede: Es handelt sich hier um einen Schnellfotografen, der ein vergleichsweise minderwertiges Produkt am niedrigschwelligen Standort Volksprater feilbot, und eben nicht um einen exklusiven Porträtfotografen aus der Innenstadt, der mit seinem Warenangebot auf die dicken Geldbörsen zielte, deren Besitzer, nebenbei bemerkt, den grünen Prater bevorzugten.
Ob Lulu, vielleicht ein Mitglied des noch heute existenten Männerbunds der Schlaraffen (das Sprachverspielte gäbe einen Fingerzeig darauf), also ob er seiner Postkarten-Botschaft eine Praterporträt-Billigversion seiner Wenigkeit hinterherschickte oder nicht, wissen wir nicht. Über den kommunikativen Gehalt der als Solitär auf uns gekommenen Postkarte lässt sich nur spekulieren, also auf was der Absender hinsichtlich seiner Adressatin Erny Krickl abzweckte. Er, bloß mit (s)einem Spitznamen zeichnend, richtet das Wort nicht persönlich an sie, die verheiratete Frau („Frau“), klebt die Marke auf den Kopf stehend auf (Achtung Briefmarkensprache!) und verpasst sich ein Epitheton ornans, indem er von sich selbst als einem „Tiefsinnigen“ spricht … honi soit qui mal y pense …
Michael Ponstingl, 20. Mai 2020
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