Unbekannte/r Fotograf/en, Echt-Photo-Verlag Scheider: „Rotunde. Wien im Prater Wien. Brand der Rotunde. 17. IX. 1937“, Postkarte, Gelatine-Abzug, ungelaufen; Privatsammlung.

Unbekannte/r Fotograf/en, Echt-Photo-Verlag Scheider: „Rotunde. Wien im Prater Wien. Brand der Rotunde. 17. IX. 1937“, Postkarte, Gelatine-Abzug, ungelaufen; Privatsammlung.

Eine Geschichte des Verschwindens

Die Rotunde war der Welt höchster Kuppelbau, als sie anlässlich der Wiener Weltausstellung 1873 im Gelände des Praters errichtet wurde. 32 in einem Kreis von 104 Metern Durchmesser angeordnete Stützpfeiler trugen die Dachkonstruktion, deren Spitze 85 Meter über dem Erdboden lag. Das Gebäude bildete die Mitte des Industriepalastes, der sich an zwei Seiten über insgesamt 900 m Länge und 200 m Breite erstreckte und eine Grundfläche von rund 70.000 m2 aufwies. Zwar war das mächtige Bauwerk nicht zu übersehen, doch wegen der Einbettung in die riesige Ausstellungshalle konnte sie von keinem Standort in ihrem vollen Ausmaß überschaut werden. Wer dies tun wollte, musste sich auf die so genannte „Laterne“ begeben, wo eine Aussichtsplattform einen Blick auf Wien, das Gelände und das Bauwerk erlaubte. Schon die ersten Fotografen, die 1872 die Baufortschritte dokumentieren wollten, mussten auf Gerüste klettern, um das gesamte Ensemble möglichst anschaulich ins Bild rücken zu können.

Der Rotunde gehörte auch weiterhin die Aufmerksamkeit der fotografischen Chronisten. Denn sie wurde für Veranstaltungen aller Art genutzt, bei welchen Gelegenheiten man immer auch Aufnahmen anfertigen ließ. Industrie- und Gewerbeausstellungen fanden in der riesigen Halle und den Nebentrakten ihr Domizil. 1898 war es eine groß angelegte Schau anlässlich des 50jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Franz Josephs, der übrigens eine Fotoausstellung angegliedert war. Im Sommer 1902 bildete das Areal das Ziel der Auto-Fernfahrt Paris – Wien, und die eingelangten Fahrzeuge konnten fünf Tage lang vom Publikum in Augenschein genommen werden. 1912 fand in denselben Räumlichkeiten die Internationale Luftfahrtausstellung statt, und ab 1921 sollte die Wiener Messe jedes Jahr in der Rotunde ihre Zelte aufschlagen.

1937 war wiederum ein Jahr der Weltausstellung, die diesmal in Paris stattfand. Während die Besucher im österreichischen Pavillon die Fotomontage mit Aufnahmen der Großglocknerstraße, die eine Höhe von rund 8,5 m und eine Länge von etwa 30 m aufwies, bestaunt haben mochten, brannte in Wien die Rotunde zur Gänze nieder. Wiederum waren Fotografen zur Stelle, um das Ereignis festzuhalten. Auch sie vermochten nur Teile der eingestürzten Mauern und brennenden Trümmer zu überblicken. Die Kamera musste unterschiedliche Standorte einnehmen, um eine ungefähre Vorstellung vom Ausmaß des Geschehens liefern zu können. Zudem wurde eine Aufnahme der unbeschädigten Rotunde benötigt, um die Betrachter gewissermaßen vom Anfang der Geschichte ins Bild zu setzen, einer Geschichte des Verschwindens, das sich selbst in der Ansichtskarte manifestiert: Der vermutlich rasch angefertigte Abzug wurde nicht sorgfältig ausgearbeitet, so dass sich die Konturen am unteren Rand verlieren – als würde die Erinnerung langsam verblassen.

Timm Starl



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