Stengel

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Ferien in Brighton

Dem Schreiber der Karte, die in einem August um 1900 nach Wien ging, ist die rätselhafte Ansicht keinen speziellen Kommentar wert: „Reise morgen von hier ab – nächste Adresse folgt“, lässt er wissen, auf einer Tour durch das britische Königreich möglicherweise. Ob er in Brighton auch an Bord jenes „sea-going car“ gegangen war, das die Karte zeigt? Die bizarre Stahlkonstruktion nämlich war eine Art Triebwagen, der – ein einzigartig gebliebenes Unterfangen – auf Schienen das Meer durchkreuzte. Hinter dem Projekt stand der Ingenieur und Erfinder Magnus Volk, der Brighton schon in den 1880er Jahren mit einer elektrischen Straßenbahn ausgestattet hatte. 1896 eröffnete die „Brighton and Rottingdean Seashore Electric Railway“ als spektakuläre Bahnstrecke zu Wasser, auf der man auf etwa sieben Meter hohen Stelzen über der Meeresoberfläche reiste – zuweilen nur im Schritttempo, wenn der Wasserwiderstand entsprechend hoch war. Sie verband das renommierte Seebad Brighton, das die mondänen Hotelpaläste im Hintergrund auf dem Höhepunkt seiner touristischen Machtentfaltung zeigen, mit seinem weniger überlaufenen, fünf Kilometer entfernten Nachbarort Rottingdean.

„Daddy long legs“ nannten die Bewohner Brightons das Gefährt respektlos, so etwas wie „langbeiniges Spinnentier“, doch diese Insekten-Analogie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es hier um etwas anderes ging. Es ist die technische Durchdringung der Natur, die in diesem Projekt zum touristischen Spektakel wird, auch wenn sich diese schon eine Woche nach Eröffnung in Frage gestellt fand: Da zerstörte ein Sturm das Fahrzeug und Teile der Strecke. Doch Magnus Volk ließ die Bahn wieder aufbauen; die Strecke eröffnete 1897 neu. Als Teil der Werbemaschinerie dürften fotografische Ansichten wie diese gedient haben. Es ist bemerkenswert, dass die Karte nicht vor Ort, von einem lokalen Touristenverband etwa, verlegt worden ist, sondern von der in Dresden ansässigen, aber international agierenden Firma Stengel & Co. England war zur Jahrhundertwende eines der wichtigsten Exportländer für die Postkartenindustrie des Deutsches Reiches, dessen Bildproduktion zu diesem Zeitpunkt weit über nationalstaatliche Belange hinausging. Die „Seereise auf Schienen“, wie zeitgenössische Plakate die Attraktion bewarben, sollte allerdings bald wieder der Vergangenheit angehören. Im Jahr 1901 bereits wurde die Stahlkonstruktion teilweise wieder abgetragen (das Meer hatte die Schienen zu unterspülen begonnen), und später blieben davon nur Teile ihrer Fundamente, Betonblöcke übrig, die übrigens noch heute sichtbar werden, wenn sich das Meer bei Ebbe zurückzieht.

Eva Tropper



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