Gefangen in der Bewegung
Am 7. Juli dieses Jahres ist es wieder soweit: die Calgary Stampede – mit für Nordamerika typischer Bescheidenheit als „The Greatest Outdoor Show on Earth“ bezeichnet – wird die Stadt Calgary im Westen Kanadas für zehn Tage in ein Cowboy-Paradies verwandeln. Das Ereignis wurde zunächst als Industrie- und Agrarmesse ab 1899 veranstaltet, um die Werbetrommel für die Stadt zu rühren und Bauern aus den umliegenden Provinzen nach Alberta zu locken. Bald war die Veranstaltung zu veritabler Größe angewachsen, wobei Rodeo, Pferderennen und das so genannte trick roping, bei dem Kälber mit einem Lasso möglichst schnell und kunstvoll eingefangen werden müssen, die Höhepunkte bildeten. Der Amerikaner Guy Weadick erkannte das Potential dieser Wettkämpfe, und im Jahr 1912 richtete er parallel zur Messe die erste Calgary Stampede als Reitsportturnier aus. 1923 wurden die beiden Veranstaltungen zusammengeführt und sind heute die weltweit größte Rodeoshow. Weadick war geleitet von einer romantisch-verklärten Vorstellung eines „Wilden Westens“, die bis heute das Event prägt. Während der Stampede war und ist die Stadt kurzfristig von Cowboyhüten und -stiefeln übersät. Auch ansässige Fotostudios wie McDermid oder W. J. Oliver profitierten von der Wildwest-Nostalgie und fertigten Postkarten an, die als Souvenirs vertrieben wurden. Aufnahmen während der Turniere waren natürlich besonders beliebt, denn sie hielten das Klischee dieser vermeintlich wilden Zeiten aufrecht, in der Männer mit bloßen Händen riesige Stiere zu Fall bringen konnten.
Aus den Aufnahmen spricht neben der Darstellung roher Manneskraft aber auch der sportliche Ehrgeiz, die Cowboys mitten im spannendsten Moment festzuhalten. In hunderten Aufnahmen wurden die eigenartigsten Sprung- oder Fallsituationen eingefangen. Sie erinnern in ihrer Dynamik zunächst an Fotos des Franzosen Jacques-Henri Lartigue, einem der Vorreiter der Momentfotografie. Er hielt schon um 1912 Bewegungen in einem Augenblick fest, der sonst blitzschnell an unseren trägen Augen vorüberzog. Durch die kurze Verschlusszeit ergaben sich Bilder, die – ungewohnt für unsere Augen – fremd erschienen und einer gewissen Komik nicht entbehrten. Fliegende Frauen, Autos die sich wie ein Stück Gummi auseinanderzogen oder Menschen die festgefroren über dem Wasser schwebten. Während Lartigue aber darauf setzte, die absonderlichsten Posen einzufangen, war den Stampede-Fotografen wohl eher daran gelegen, die Dynamik des Reitsportes zu visualisieren. Bert Nelson scheint auf dem Foto mit dem wilden Stier trotzdem eher zu tanzen als zu ringen. Die Hinterhufe sind schwungvoll vom Boden abgehoben, was angesichts der Tatsache, dass ein solches Tier leicht eine Tonne wiegen kann, zumindest erstaunlich ist. Lartigues Fotos wurden angesichts ihrer Dynamik als Symbole für den Beginn der Technisierung gewürdigt. Im Vergleich dazu versinnbildlichen die Postkartenmotive der Calgary Stampede wie das Event selbst die Schnittstelle von Tradition und Fortschritt.
Magdalena Vukovic
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