Im Schatten des Mondes
Man muss schon sehr genau hinsehen, um das Besondere dieser am 17. September 1897 gelaufenen Mondscheinkarte zu entdecken. Auf den ersten Blick zeigt sie lediglich eine von vielen typischen Ansichten des Oberen Belvederes in Wien aus dem 19. Jahrhundert. Doch irgendetwas verstellt da im Bild die nächtliche Sicht auf die mittige Fensterfront des Erdgeschosses. Eine Art Bühne oder Hütte lässt sich ausmachen, die direkt vor dem Schloss platziert zu sein scheint. Zugegebenermaßen wird dieses kleine Nebengebäude nur denjenigen auffallen, die gezielt danach suchen. Anzunehmen ist, dass es damals weder dem Fotografen des Souvenirmotivs noch dem oder der Absendenden um dieses Detail ging.
Tatsächlich handelte es sich bei dem unscheinbaren Gebäude um das Freiluftatelier des k. k. Hof-Fotografen Josef Löwy, das von 1888 bis 1891 im Garten-Parterre vor dem Oberen Belvedere aufgebaut worden war, um die Gemälde der Alten Meister aus den kaiserlichen Sammlungen im Freien zu fotografieren. Anhand dieser Entdeckung lässt sich nicht nur die Entstehungszeit des Postkartenmotivs eingrenzen, sondern auch ein Grundstein zur Geschichte des Kunsthistorischen Museums in Wien und der fotografischen Kunstreproduktionen ans Licht bringen.
Die groß angelegte Fotokampagne fand zeitlich direkt vor der Übersiedelung der kaiserlichen Sammlungen vom Belvedere in das neu errichtete Gebäude am Ring statt. Der damalige Galeriedirektor Eduard Ritter von Engerth plante eine Neuauflage der Publikation des Kataloges der Gemälde der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses, die zum ersten Mal fotografisch illustriert werden sollte. Löwy erhielt 1887 vom kaiserlichen Hof einen Exklusivvertrag, der es ihm ausnahmsweise gestattete, die Gemälde im Freien zu fotografieren. Diesem Vertrag war eine technische Zeichnung beigelegt: Die Konstruktion seines speziellen Außenateliers konzipierte Löwy als fotografische Drehscheibe, wie sie auch bei anderen Reproduktionsfotografen dieser Zeit üblich war. So konnte das zu fotografierende Objekt je nach Sonneneinstrahlung gemeinsam mit der Kamera auf einer Plattform gedreht werden.
Als die Postkarte sechs Jahre nach Abschluss des Projektes verschickt wurde, wusste der oder die Absender*in vermutlich gar nichts von dieser speziellen Fotokampagne und dem drehbaren Atelier. Auch der handgeschriebene Text bezieht sich nicht auf die Tatsache, dass da im Bild Löwys Drehscheibe zu sehen ist. Die Postkarte selbst ist adressiert an ein „Fräulein Rosa Rosenberg, Advokatenstochter“ in Jungbunzlau in Böhmen und ist leider nur als Fragment einer mehrteiligen Korrespondenz erhalten. Dem anonymen Fotografen des Postkartenmotivs wird die Drehscheibe vielleicht aufgefallen sein, doch da sich das Ablichten der Gemälde über drei Jahre hinzog (die Belichtungszeit betrug ca. 15 Minuten pro Bild), wird er das kaum sichtbare Detail in Kauf genommen haben – oder aber Löwy selbst hat diese Fotografie angefertigt. Wir wissen es leider nicht.
Die fotografische Ansicht auf der hier gezeigten Postkarte stellt bislang die einzige Aufnahme von Löwys Freiluftatelier beim Oberen Belvedere dar. Glücklicherweise bieten heutzutage zahlreiche Onlineportale die Möglichkeit, digitalisierte Postkarten mit dem Motiv des Belvederes zu suchen und die Freude war groß, als ich nach tagelanger Recherche endlich diesen fotografischen Beleg zu Löwys Projekt entdeckte. Die Aufnahme zeigt auch, dass die Position des Ateliers bewusst so gewählt wurde: Zum einen gestaltete sich der Weg, der zurückgelegt werden musste, um die Gemälde aus dem Schloss zur Drehscheibe zu transportieren, dadurch möglichst kurz. Zum anderen weist die Position des Mondes – der in Wirklichkeit natürlich die Sonne war, da man eine solche Aufnahme des Belvederes nur bei Tage bewerkstelligen konnte – darauf hin, wie gut die Exponierhütte dort mit natürlichem Licht angestrahlt wurde.
Eine Abbildung der Drehscheibe begegnet uns 1897 noch in einer Zeichnung in der Photographischen Correspondenz (Nr. 439, S. 165) zu einem Textbeitrag, in dem Löwys Fotokampagne in den kaiserlichen Sammlungen als dessen „Hauptwerk“ deklariert wurde. Dort – rechts neben dem Fabrikgebäude seiner Reproduktionsanstalt, das der Fotograf 1895 in der Parkgasse 15 im dritten Bezirk in Wien eröffnete – steht dasselbe drehbare Freiluftatelier wieder, das auf der Postkarte im Mondlicht so schwer zu erkennen ist.
Hanna Schneck, 20. November 2022
Mehr zur erwähnten Fotokampagne und dem Freiluftatelier erfahren Sie in der Ausstellung „Farbe in Schwarz-Weiß. Josef Löwys photographische Drehscheibe (1888-1891)“, die im Kunsthistorischen Museum Wien vom 28. Oktober 2022 bis zum 1. Mai 2023 zu sehen ist. https://www.khm.at/besuchen/ausstellungen/ansichtssache-26/
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen:
Sabine Pénot, Hanna Schneck (Hg.): Farbe in Schwarz-Weiß. Josef Löwys photographische Drehscheibe (1888-1891). Wien: KHM, 2022, 104 S., € 14,95
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