Anonym: „Simulant.“, Silbergelatine, nach 1904, ungelaufen, Privatsammlung.

Anonym: „Simulant.“, Silbergelatine, nach 1904, ungelaufen, Privatsammlung.

Kopfloser Simulant

Während heutzutage eine Fotomontage wie jene auf dieser Postkarte mittels Photoshop eine leichte Übung darstellt, so waren derartige Eingriffe in ein Bild in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch eine aufwändige Angelegenheit. Damals trachteten Fotografen im Metier der Porträtfotografie nach zusätzlichen Vermarktungsmöglichkeiten, indem sie die schon alltäglich gewordenen Porträts um einen Spaßfaktor ergänzten und durch zum Teil schockierende Montagen beim Betrachter für einen Wow-Effekt sorgten. Die Ergebnisse der aufwändigen Bearbeitungen der Negative sollten außerdem den Beweis für die Kunstfertigkeit und die technischen Fähigkeiten des Fotografen erbringen. Das Schaffen von derartigen Illusionen traf genau den Geist der Zeit, in der sämtliche aus dem Surrealen und Geisterwelten entspringende Narrative großen Anklang in der Bevölkerung fanden, und somit waren kopflose Porträts in zahlreichen Ausführungen im Umlauf. Während der Porträtierte in diesem Beispiel seinen eigenen Kopf unterm Arm trägt, waren der Fantasie in der Ausführung offensichtlich keine Grenzen gesetzt. Da führt auf einem Motiv eine Dame eine Konversation mit ihrem schwebenden Kopf, während auf dem Nächsten der eigene Kopf auf dem Schoß oder einem Tablett präsentiert wird. Auch vor der inszenierten Enthauptung einer Mutter durch die eigenen Kinder wurde nicht Halt gemacht.

Die technische Leistung des Fotografen bestand bei diesen Porträts im Geschick, mehrere Negative zu einem sogenannten Kompositionsnegativ zusammenzusetzen und dabei durch Retusche, Abwedeln und Nachbelichten die Übergänge möglichst weich zu gestalten. Der vermutliche Begründer dieser Technik, Oscar Gustave Rejlander (1813 – 1875), stammt aus England und machte sich unter anderem als „Vater der Kunstfotografie“ einen Namen. Für eines seiner bekanntesten Bilder „The Way of Life“ aus dem Jahr 1857 setzte er bis zu 30 Negative zusammen.

Das vorliegende Motiv stammt – darauf lässt sich bei genauerer Betrachtung der Bearbeitung schließen –  eher aus der Dunkelkammer eines Amateurs, sind die Schnittstellen am Negativ im Halsbereich doch deutlich zu erkennen, und es wurden kleinere Partien neben der Hüfte und bei der linken Hand nicht sorgfältig retuschiert. Die Teilung der Adressseite in Mitteilungs- und Adressfeld liefert überdies den Hinweis, dass die zeitliche Einordnung um einiges später als die viktorianischen Vorbilder erfolgen muss; die Zweiteilung wurde in Österreich 1904 und in Deutschland 1905 eingeführt.

Die Betitelung mit „Simulant“ verdeutlicht zudem den scherzhaften Charakter der Postkarte. Auch wenn die vorliegenden Informationen keinen Schluss auf die Intention des Autors zulassen, so könnte in der Darstellung durchaus eine kritische Botschaft enthalten sein: In der Medizin des beginnenden 20. Jahrhunderts wurde ein Patient schnell einmal als Simulant abqualifiziert und musste schmerzhafte „Therapien“ über sich ergehen lassen. Mit dem Kopf unterm Arm wäre ihm das wahrscheinlich nicht passiert.

Martin Keckeis



Permalink: https://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/kopfloser-simulant.html

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