Menschen auf der Straße
In der Mitte der 1920er Jahre entdeckten manche Berufsfotografen in den großen Städten eine neue Möglichkeit, auf der Straße ihrem Gewerbe nachzugehen. Sie montierten ihre Kamera auf einem Stativ, jedoch ging es ihnen nicht um Ansichten von bekannten Gebäuden, auftauchenden Fahrzeugen oder belebten Plätzen. Sondern sie postierten sich auf stark frequentierten Gehsteigen, richteten das Objektiv auf einzelne Passanten oder Paare, die auf sie zukamen oder nahe vorbeigehen wollten, und machten in rascher Folge mehrere Aufnahmen. Nach Vorzeigen eines Musters, wie solche Bilder aussehen würden, und nach Überreichung einer Visitenkarte mit dem Aufdruck der Anschrift des Geschäfts wurde den Porträtierten ein Angebot gemacht. Sie könnten einen oder mehrere Abzüge erwerben und in Kürze an der angegebenen, nicht allzu weit entfernten Adresse abholen.
Inzwischen wurden im Betrieb des Lichtbildners drei oder vier Negative zwischen den Rändern von Filmstreifen montiert und gemeinsam im Postkartenformat ausgearbeitet. Das Ergebnis sollte den Eindruck erwecken, als wäre der Rollfilm samt der Perforation entwickelt worden. Mit dieser Manipulation sowie mit der senkrechten Anordnung der Aufnahmen und der zeitlichen Sequenz der Darstellung wurden filmische Momente eingebracht, die jedem geläufig waren. Denn der Kinofilm erlebte in jenen Jahren eine starke Popularität, die in der Eröffnung zahlreicher neuer Lichtspieltheater ihren deutlichen Ausdruck fand. Die beengten Wohnverhältnisse in den Metropolen hatten nicht zuletzt dazu geführt, dass mehr Freizeit in der Öffentlichkeit verbracht wurde. Man promenierte durch die Geschäftsstraßen, ging ins Kino oder, wer es sich leisten konnte, besuchte eine Veranstaltung in einem der Varietés. Es kam in Mode, die Porträts der Filmstars zu sammeln, und nun war man gewissermaßen selbst in einem Film aufgetreten.
Zugleich verwies die Bilderfolge auf die illustrierten Zeitschriften und Magazine, die in jenen Jahren mit hohen Auflagen erhebliche Verbreitung fanden. Während vor dem Ersten Weltkrieg im Inneren der Blätter eine Ansammlung von einzelnen Wiedergaben mit unterschiedlichen Motiven dominiert hatte, war nun eine neue Gilde von Pressefotografen auf den Plan getreten, die verstärkt mit Fotoserien ihre Themen vortrugen. Weniger der einzelne Augenblick stand im Mittelpunkt als eine Geschichte, die mit Bildern erzählt wurde. Die Gehfilmaufnahmen vereinten im Kleinen alle Elemente der Fotoreportage, indem die Akteure klar zu erkennen sind und im Mittelpunkt stehen. Das Geschehen ist aktuell, und mit der Aneinanderreihung der Augenblicksaufnahmen wird ein winziger Ausschnitt aus dem öffentlichen Dasein des urbanen Zeitgenossen sichtbar gemacht.
Timm Starl
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