Fotografie und Verlag Deutsches Hygiene-Museum: „Der durchsichtige künstliche Mensch“, Offiz. Karte Nr. 21, nach 1930, Silbergelatine, gelaufen am 23.6.1939 von Dresden nach Schwäbisch-Gmünd; Privatsammlung.

Fotografie und Verlag Deutsches Hygiene-Museum: „Der durchsichtige künstliche Mensch“, Offiz. Karte Nr. 21, nach 1930, Silbergelatine, gelaufen am 23.6.1939 von Dresden nach Schwäbisch-Gmünd; Privatsammlung.

Nichts zu verbergen?

Am 23. Juni 1936 war Fritz, der Verfasser der vorliegenden Postkarte, nach einem zweitägigen Marsch in Dresden angelangt. Mit „Wasserblasen an den Füßen“ schrieb er aus einer Jugendherberge an seine Familie. Auf der Bildseite der Karte ist das auch heute noch bekannteste Exponat des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden abgebildet: der „durchsichtige künstliche Mensch“, oder besser bekannt als „gläserner Mensch“.

Die lebensgroße Figur wurde erstmals 1930 ausgestellt und avancierte innerhalb kürzester Zeit zum Publikumsmagneten. Es war das erste Mal, dass der menschlichen Körper auf diese Art zu sehen war, als ob die Organe, Blutgefäße und Knochen ganz ohne Haut und Muskelfleisch in einer transparenten Hülle schwebten. Offenbar befriedigte dieser Plastikmensch eine unbändige Neugier danach, den eigenen Körper zu durchleuchten und zu verstehen.

Obgleich dem anatomischen Modell eine wissenschaftlich-aufklärerische Funktion nicht abgesprochen werden soll, ist dessen eigenwillige Körperhaltung aber weniger medizin- und eher kulturhistorisch zu verorten. Mit erhobenen Armen und himmelwärts gerichtetem Blick zitiert die Figur das von Fidus popularisierte Lichtgebet. Diese Pose ist untrennbar mit der deutschen Lebensreform des frühen 20. Jahrhunderts verbunden, die sich zu einer der vielen Keimzellen des Nationalsozialismus entwickeln sollte. Was als Befreiung des Körpers angefangen hatte, pervertierte zum Zwang nach Optimierung, rassischer Reinheit und Gesundheit. Der Leib war den Interessen des übergeordneten „Volkskörpers“ verpflichtet und das NS-Regime kontrollierte diesen Anspruch bis in die kleinsten Winkel der Privatsphäre hinein, überwachte alle Aspekte des Familienlebens, auch die private Korrespondenz und Bildproduktion. Dem Verfasser der Karte war das mit Sicherheit bewusst, da er doch selbst in vorauseilendem Gehorsam mit dem Hitlergruß zeichnete, auf einem Medium, das regelmäßig der staatlichen Zensur unterlagen.

Heute wird der Begriff des „gläsernen Menschen“ synonym mit der digitalen Überwachungsgesellschaft verwendet. Soziale Netzwerke im Internet, wie auch jüngst wieder bekannt wurde, geben bereitwillig sensibles persönliches Material weiter. Es ist nicht auszuschließen, dass zunächst scheinbar harmlose und irrelevante Daten mit einer Veränderung des politischen Klimas plötzlich an Brisanz gewinnen. Die Inhalte einer Postkarte mögen trivial erscheinen, wurden aber schon oft in der Geschichte Gegenstand staatlicher Inspektion, um die Verfasserinnen und Verfasser, Empfänger und Empfängerinnen zu durchleuchten und zu kontrollieren.

Magdalena Vukovic



Permalink: https://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/nichts-zu-verbergen.html

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