Sonnenuntergang am „Meer der Wiener“
Der Slogan „Meer der Wiener“ entstand erst Mitte der 1920er-Jahre. Bis dahin lag der Neusiedler See in der ungarischen Reichshälfte und war in der Wahrnehmung der GroßstädterInnen nur wenig präsent. In der Zwischenkriegszeit zog das nun großteils österreichisch gewordene Grenzgewässer vermehrt AusflüglerInnen, Badelustige und SeglerInnen aus Wien an. Mit dem von burgenländischen Touristikern geprägten Werbespruch „Meer der Wiener“ sollten gezielt Gäste aus der Hauptstadt angelockt werden. Geschickt wurde dabei die Sehnsucht nach exotischer Ferne mit bequemer Nähe verknüpft. Im patriotischen Selbstbild der neuen Republik bildeten ja Steppensee und Puszta den Gegenpol zur dominanten Alpenlandschaft. Zudem durfte das Wort „Meer“ symbolisch ein wenig den Verlust des österreichischen Meerzugangs kompensiert haben.
Die ikonische Positionierung und Integration des Neusiedler Sees als „schöne Landschaft“ in Österreich gelang damals mit Hilfe des Motivs „Abendsonne“, „Abendstimmung“ oder „Sonnenuntergang“ mit Segelboot. Die damals vorherrschende Technik der Schwarz-Weiß-Fotografie stand der Verbreitung dieses Sujets, auch wenn wir heute Farbengesättigtes gewohnt sind, nicht im Wege – im Gegenteil. Manche Hersteller waren gar bemüht, spezielle Lichteffekte, beispielsweise Spiegelungen oder „leuchtende Wolken“, aufs Bild zu bannen. Die Darstellung des Sonnenuntergangs befriedigte offenbar auch hier längst etablierte Sehgewohnheiten und Bildwünsche des Publikums. Die (Abend-)Sonne auf dem Postkartenstand war ja in eine populäre und sentimentale Motivtradition eingebettet. Die ästhetische Entdeckung des Sonnenuntergangs war kulturgeschichtlich Teil eines Prozesses, in dem die touristische Aneignung der Natur für immer mehr Menschen an die Stelle der praktischen Nutzung durch Arbeit trat. Und wenn die Sonne am Horizont im modernen Sinne als Ausdruck des „Schönen“ und „Erhabenen“ nicht zum Alltag gehört, ja vielmehr die Distanz zu diesem symbolisieren soll, so wird ihre Funktion in der touristischen Kommunikation deutlich: Sie dient gleichsam als visualisierter Beleg, dass den AbsenderInnen der Karte dieser Ausstieg aus dem Alltag – zumindest für die Dauer des Urlaubs oder auch nur Tagesausflugs – geglückt sei.
Sándor Békési, 3. Mai 2020
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