LW (Eigenverlag), Schönbrunn, um 1900, Silbergelatine, ungelaufen, Photoinstitut Bonartes

LW (Eigenverlag), Schönbrunn, um 1900, Silbergelatine, ungelaufen, Photoinstitut Bonartes

„(...) und hinter tausend Stäben keine Welt.“

Die auf der Bildseite der vorliegenden Karte abgebildeten Löwen in einem Käfig einer Menagerie im Tiergarten Schönbrunn versetzen einen ob der Trostlosigkeit des Motivs unmittelbar in die Bilderwelt aus Rainer Maria Rilkes Dinggedicht „Der Panther“. Die beiden Raubkatzen geben ein geradezu präzises Abbild der im Text verwendeten Metaphern über ein eingesperrtes Tier.

Rilke verbrachte in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts viel Zeit im botanischen Garten von Paris, wo unter anderem eben auch exotische Tiere zur Schau gestellt wurden. Nicht umsonst trägt das Gedicht den Untertitel „Im Jardin des Plantes“. Sei es dem Wissen um Rilkes Wahrnehmung seines Panters oder dem Bewusstsein von den im Verschwinden begriffenen Menagerien als Teil einer schon veralteten Ausstellungskultur geschuldet, fanden sich auf offiziellen Postkarten des Pariser Gartens dann auch fast idente Motive. Auf diesen zum Erwerb aufliegenden Karten sind die Löwen gleichermaßen hinter den alles überlagernden Gitterstäben des Käfigs als ihrer Perzeption und Handlungsfähigkeit beraubte Wesen zu sehen.

Im Gegensatz dazu war die vorliegende, ungelaufene Karte vermutlich nicht für den postalischen Versand bestimmt. Um 1900 war es durchaus üblich, dass Amateurfotografen für den Hausgebrauch ein gewisses Repertoire ihrer Glasnegative zum Vorzeigen oder Archivieren kostengünstiger im Rotationsdruck auf Postkarten ausarbeiten ließen. Der Silbergelatine-Abzug stammt aus einer Serie von rund 250 Aufnahmen im selben Format, die alle mit dem Kürzel „LW“ versehen sind. Mehr wissen wir über den Autor oder die Autorin nicht. Wahrscheinlich war er oder sie Mitglied in einem der fotografischen Vereine, kannte wohl auch deren Ausstellungen sowie Magazine und war offensichtlich mit der Ästhetik des Camera Clubs in Wien durchaus vertraut.  Neben Ausstellungen wurden von den Amateurvereinen häufiger noch Clubabende organisiert, bei denen Mitglieder etwa Dias von ihren fotografischen Errungenschaften präsentierten. Der Kanon an Gezeigtem umfasste Fotografien von pittoresken Landschaften und Stadtansichten über ländliche Lebensweisen und Typen, sowie Familienidyllen bis hin zu traditionellen Festlichkeiten und Reisen.

Das Bild vom Löwenkäfig lässt sich so gar nicht in die Serie einreihen, auch weil es die einzige Aufnahme von Schönbrunn aus der Serie ist. Gut möglich, dass sich auch der Urheber oder die Urheberin von Rilkes lyrischer Darstellung inspirieren hat lassen.

Martin Keckeis

 

Zum Thema Wiener Camera Club eröffnet am 21. Februar 2019 im Photoinstitut Bonartes eine Ausstellung mit dem Titel "Liebhaberei der Millionäre. Der Wiener Camera-Club um 1900" kuratiert von Astrid Mahler.



Permalink: https://postkarten.bonartes.org/index.php/herausgegriffen-detail/und-hinter-tausend-staeben-keine-welt.html

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