„Wiener Lieblinge“
Betont lässig posiert der am Wiener Deutschen Volkstheater wirkende Schauspieler vor der Kamera. Auf dem Schreibtisch sitzend und den rechten Fuß auf den davor stehenden Stuhl gestellt, hält er in der rechten Hand ein Textbuch und in der linken eine Zigarre. Es ist sicherlich nicht die übliche Haltung, die er beim Studium einer Rolle einnimmt, doch sie passt zu den locker arrangierten Gegenständen im gründerzeitlichen Wohnzimmer des Hausherrn. Auf der Arbeitsfläche des Sekretärs und dem daneben stehenden kleinen Regal sind Mappen und Schriftstücke gestapelt, Aufstellrahmen und einzelne Abzüge krönen die seitlichen Aufsätze des Schreibtisches. An der Wand hängen gerahmte Porträts von Kolleginnen und Kollegen, die sich als Privatpersonen oder in Rollenkostümen haben abbilden lassen. Über einen alten Rahmen ist eine Schleife drapiert, die dem Bühnenakteur verehrt worden sein mag und von deren Widmung nur die ersten Worte zu entziffern sind: „Dem immer ...“
In den 1890er Jahren hatten einige Wiener Berufsfotografen ein neues Genre für sich entdeckt. Für ein Porträt brauchten die Kunden aus der Bühnenwelt nicht mehr ins Atelier zu kommen, sondern der Lichtbildner brachte seine gesamte Ausrüstung ins Heim der Künstler und Künstlerinnen. Damit nicht nur die fotografierte Person deutlich zu sehen war, wurden die Gerätschaften für Kunstlichtaufnahmen mitgenommen. Bei entsprechend gleichmäßiger Beleuchtung waren in der Aufnahme die Gesichtszüge und die Kleidung des Modells ebenso genau zu erkennen wie die Einrichtung, also nach welchem Geschmack die Auswahl des Mobiliars und der übrigen Gegenstände erfolgt ist. Die solcherart gewonnenen Wiedergaben konnten die Porträtierten nicht nur an Freunde und Bewunderer verschenken, sondern die Abzüge ließen sich vom Hersteller in größeren Auflagen produzieren und als Sammelstücke vertreiben. Die Käufer konnten sich die Bilder zu Hause in Ruhe betrachten und ihrem Liebling nicht nur ins Gesicht sehen, sondern auch das Interieur in Augenschein nehmen und auf diese Weise vom eigenen Zimmer aus in jenes der Berühmtheit blicken. Als wäre es eine private Begegnung, die außerhalb jeglicher Öffentlichkeit stattfindet.
Charles Scolik gehörte zu den führenden Porträtisten des Fin de Siècle in Wien, doch verfügte er über bessere Möglichkeiten als sein Konkurrent Ludwig Grillich, der gleichfalls zahlreiche Prominenz aus Künstlerkreisen zu seiner Kundschaft zählen konnte und 1892 eine Serie „Wiener Künstler und Schriftsteller zu Hause“ aufgelegt hatte. Denn um 1900 waren neue Möglichkeiten zur Verbreitung fotografischer Bilder erschlossen worden. Als Einzelstück zum Verschenken und Sammeln bot die Postkarte das ideale Medium, und mit einer Illustration in der Zeitung erreichten die Bilder ein noch größeres Publikum. Von Scolik ist überliefert, er habe 1901 „eine Collection von mehr als hundert Blitzlichtaufnahmen berühmter Personen in ihren Wohnungen oder Amtsräumen aufgenommen“.
Die Zurschaustellung des Privaten war bislang auf fiktive Darstellungen in der Literatur beschränkt gewesen. Nachdem aber mit der Fotografie der Knipser das private Dasein zum Bildgegenstand avanciert war, hatte auch jene Personengruppe, die aus beruflichen Gründen ständig das Scheinwerferlicht suchte und immer schon gerne in Fotografien als Darsteller wie als Privatleute aufgetreten waren, keine Scheu, die eigenen vier Wände als Bühne zu nutzen. Mit der illustrierten Postkarte war zudem ein Bildmedium auf den Plan getreten, das mit seiner massenweisen Produktion gleichermaßen den Künstlern wie ihren fotografischen Porträtisten zu mehr Reputation verhalf. Mit ihr begann die bildliche Auslieferung des Privaten an die Öffentlichkeit, die bis heute immer wieder ihr voyeuristisches Publikum gefunden hat und findet.
Timm Starl
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