Was zeigen Postkartenbilder?

Wie andere Bilder auch sind illustrierte Postkarten Teil von sich wandelnden, historischen Sehgewohnheiten. Sie stehen also nicht nur für das Vorhandene, sondern zeigen immer auch eine bestimmte Art, wie das Vorhandene betrachtet, bewertet, ins Bild gesetzt worden ist. In Postkarten verschränken sich bildliche Aufzeichnung und Sehanleitung. Die Beschäftigung mit illustrierten Postkarten ist daher immer eine Auseinandersetzung mit Wahrnehmungsformen und kulturellen Bedeutungen. Diese können nicht nur im Bild und in der Materialität des Bildträgers, sondern auch in der Interaktion von Bildern und Texten aufgesucht werden.

 

Bildwelten

Das Feld, das die illustrierte Postkarte dabei in visueller Hinsicht aufmacht, geht weit über den touristischen Zusammenhang hinaus. Nachdem das Medium in seiner Frühzeit, zwischen den 1870er-Jahren und der Jahrhundertwende, vor allem topografische Ansichten verbreitete, wurde es im frühen 20. Jahrhundert zu einem Bildträger, auf dem alle Bereiche des Lebens ihren Niederschlag gefunden haben. Überschneidungen mit der privaten Fotografie (in Porträts und Ausflugsszenen, Familien- und Gruppenfotos), mit dem Fotojournalismus (in der Berichterstattung über Ereignisse, Katastrophen, politische Aktivitäten im öffentlichen Raum), aber auch mit dem Feld der Luxuspapierindustrie vom Andachtsbildchen bis zur Neujahrskarte, mit den Feldern der Werbung, der politischen Ikonografie oder der Karikatur machten Postkarten zu einem Leitmedium, das in unterschiedlicher Weise gesellschaftliche Wahrnehmungsformen reflektiert.

Von den Kulturwissenschaften sind illustrierte Postkarten in dieser Hinsicht erst in den letzten etwa zwanzig Jahren entdeckt worden. Einige Themen haben sich dabei als Forschungsfelder etabliert. Etwa die Frage nach dem sich ändernden Umgang mit öffentlichem Raum, wie er auf Postkarten sichtbar wird, nach der Inszenierung von Urbanität (Menschenmengen, Verkehr, Elektrizität) oder Landschaft (im Wechselspiel von technischer Erschließung und touristisch konsumierbarer „Natürlichkeit“). Doch auch die Wahrnehmung außereuropäischer Kulturen (zwischen Exotisierung und Abwertung), gesellschaftliche Frauen- und Männerbilder oder eine Geschichte nationaler Identitätsentwürfe lassen sich über Postkarten rekonstruieren. Dabei sind illustrierte Postkarten nicht zuletzt deshalb so spannend, weil sie – über die Ebene der Mitteilungen – ebenso Zugang zu den Deutungsleistungen der historischen AkteurInnen bieten.

 

Bewegte Bilder

Wesentlich für die erstaunliche Erfolgsgeschichte der illustrierten Postkarte ab der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist ihre Verknüpfung unterschiedlicher medialer Aspekte. In der Kombination von Bild, Kurztext und postalischer Beweglichkeit haben Postkarten einen neuen kommunikativen Stil etabliert. Zugleich haben sie veränderte lebensweltliche Erfahrungen auf besondere Weise verständlich und handhabbar gemacht. Im Verbund mit illustrierten Magazinen und Zeitschriften, lithografierten oder fotografischen Ansichten ferner Länder erzählen Postkarten um 1900 von der Erfahrung, dass Orte „nahe gerückt“ sind. Diese Erfahrung vermitteln sie nicht nur visuell, durch den Eindruck verkleinerter Räume, sondern auch auf der Ebene ihrer Zirkulation. Die Post und ihre Neustrukturierung im 19. Jahrhundert wie auch die ständige Zunahme von Presseerzeugnissen können als der Beginn moderner Netzwerktechnologien gelten, in denen das kontinuierliche Angeschlossensein an Kommunikationsströme das tägliche Leben entscheidend zu prägen beginnt. Genauso wie die Bilder vom Näherrücken der Welt künden, tun das die gesteigerten Zustellfrequenzen, die reduzierten Portotarife, die neue Leichtigkeit, mit der Sendungen von handschriftlichen und gedruckten Mitteilungen nicht nur im Inland, sondern auch ins Ausland verschickt werden konnten.

 

Sammelbilder, Welt-Bilder

Das Sammeln von Postkarten, das seinen Höhepunkt zwischen 1900 und dem Ersten Weltkrieg hatte, kann als eine seismografische Reaktion auf diese veränderte Lebenswelt gesehen werden. Das Postkartenalbum ist der Ort, an dem die massenhaften Bilder nebeneinander treten. Mit ihnen ist es möglich, die neue Überschaubarkeit der Welt einzuüben – im Anordnen und Neuordnen der Bilder, im Gruppieren zu Kategorien, im „Überblick“, den ihr Nebeneinander gewährt. Konvolute in Postkartenalben zeugen von zeitgenössischen Vorstellungen, mit individuellen Zusammenstellungen neue Modelle von Welt zu entwerfen. Doch auch ein anderes Aufeinandertreffen wird im Postkartenalbum möglich: dasjenige von grafischen und fotografischen Ansichten, das weder im Scrapalbum noch im Carte-de-visite-Album gegeben war und damit neue Sehgewohnheiten trainierte. Später wird das Kompilieren von Postkarten mit privaten Fotografien, Werbeprospekten oder Zeitungsausschnitten eine weitere Technik der Collage einüben, die nicht ohne ästhetischen Einfluss auf andere Bildwelten geblieben ist.

 

Materielle Bilder

Als materielle Bilder stehen Postkarten im Überschneidungsfeld vielfältiger fotografischer und grafischer Praktiken. Sie sind von Anfang an bearbeitet, retuschiert, mit Staffagen versehen worden. Oft treten Fotografie und Zeichnung gemeinsam auf, wurde nach Fotografien gezeichnet oder wurden Zeichnungen fotografisch reproduziert. Postkarten zeigen die „Wanderung“ von Motiven durch verschiedene mediale Aggregatzustände: etwa von der Originalfotografie zur zeichnerisch überarbeiteten Vorlage und zum Druck, der wiederum häufig dieselben Motive in unterschiedlichen Verfahren in Umlauf brachte (in Lichtdruck, dann neu aufgelegt in Autotypie, oder überdruckt mit farbigen Lithoplatten). Wie auch heute noch im Zusammenhang digitaler Bildbearbeitungsprogramme lagen Postkarten von Anfang an vielfältige Formen und Etappen der Bildwerdung zugrunde, die nicht nur der Trennung zwischen Grafik und Fotografie, sondern auch der zwischen manuellen und technischen Verfahren widerstehen.

Einem interessierten, fragenden Blick öffnen Illustrierte Postkarten ein weites Feld. Ihr ästhetischer Einfluss auf andere Bildwelten, ihre prägende Kraft für die Ausbildung kollektiver Sehgewohnheiten und Bewertungsschemata, ihre Relevanz als Kommunikationsträger und welthaltige Sammelobjekte machen sie zu einem hochinteressanten Untersuchungsgegenstand, der erst in Ansätzen erforscht ist. Wichtig ist dabei der Blick über die einzelne Karte hinaus. Die Beziehungen, die eine illustrierte Postkarte zu anderen, ähnlichen, früheren oder späteren Karten, aber auch zu anderen Bildmedien unterhält, die Verschiebungen und Bruchstellen, die damit in der Geschichte von Motiven, Darstellungsmustern oder Verfahren sichtbar werden, bilden dafür den wesentlichen Ausgangspunkt. Ebenso gilt es, die Ordnungsdispositive illustrierter Postkarten zu berücksichtigen, die Alben, Karteikästen und Schuhkartons, in denen sie als Erinnerungsobjekte überdauern. Auch sie erzählen mehr über eine Geschichte des Sehens, als man – auf einen flüchtigen ersten Blick – vermuten würde.

Eva Tropper, Timm Starl